Gericht

Adulte ADHS selbst therapiert?

Blechen statt sitzen: Ein 34-jähriger Handwerker aus dem Freudenstädter Stadtgebiet erzielte mit seiner Berufung am Landgericht Rottweil einen Teilerfolg.

24.03.2017

Von Cornelia Addicks

Im Oktober 2016 war er wegen Anbaus und Trocknung von Haschischpflanzen am Amtsgericht Freudenstadt zu
sieben Monaten Haft verurteilt worden.

Richtig so, fand die Staatsanwältin gestern in ihrem Plädoyer. Zwar habe der Angeklagte die weiche Droge nur zum Eigenkonsum nutzen wollen und der Gutachter ihm zudem eine verminderte Steuerungsfähigkeit attestiert, aber schließlich gebe es da zahlreiche, auch einschlägige Vorstrafen. Die Vorrichtungen in dem Nebenzimmer der Sozialwohnung für den Marihuanaanbau sei „professionell“ angelegt gewesen.

Auch die Zusicherung, er sei seit Wochen clean, hatte die Staatsanwältin nicht hundertprozentig überzeugt: „Wenn ich böse wäre, würde ich sagen ‚Ausreden‘ – bin ich aber nicht“, meinte sie. Es fehle dem Angeklagten an konkreten Zukunftsplänen, eine Gefängnisstrafe sei unerlässlich. Wie schon am Amtsgericht sollte aus den sechs Monaten für den unerlaubten Anbau und den zwei für die Herstellung des Betäubungsmittels eine Gesamtstrafe von sieben Monaten gebildet werden. „Eine Aussetzung zur Bewährung kommt nicht in Betracht“, schloss das Plädoyer.

Der Freudenstädter Anwalt des 34-Jährigen hatte auf dessen Beweggründe hingewiesen: „Das Cannabis sollte zur Selbsttherapie des adulten ADHS dienen“. Der Angeklagte leide an zwei Typen dieser Krankheit. Abhängig sei er erst durch den Selbstheilungsversuch geworden. Früher hatte der Freudenstädter das Marihuana gekauft, wollte dann aber Selbstversorger werden. Dafür hatte er Gerätschaft für 300 bis 500 Euro gekauft. Sein Mandant sei durchaus therapiewillig, wolle aber die ursprüngliche Krankheit behandelt wissen und sehe sich daher bei der Drogenberatung nicht am richtigen Ort. Der Anwalt bat
um ein verringertes Strafmaß und um Aussetzung der Strafe zur Bewährung.

Einen ganz anderen Weg ging die 11. Kleine Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Wolfgang Heuer: Das erstinstanzliche Urteil wurde aufgehoben, stattdessen wurden zwei Geldstrafen von 90 und 30 Tagessätzen zu hundert Tagessätzen à zehn Euro zusammengefasst. Der arbeitslose Angeklagte kann die Summe in Monatsraten zu 50 Euro abbezahlen. In der Urteilsbegründung wies der Vorsitzende auf die „ganz große Besonderheit“ dieses Falls hin: Nicht um sich an Wochenenden zu bekiffen und es sich dabei
gut gehen zu lassen, wollte der 34-Jährige das Cannabis konsumieren, sondern um die Auswirkungen des ADHS, zu denen auch Impulskontrollstörungen zählen, zu mindern.

„In anderen Ländern kann man die Droge im Coffeeshop kaufen“, sagte Richter Heuer und erinnertedaran, dass auch in Deutschland bei Multipler Sklerose oder zur Schmerzlinderung bei Todkranken Haschisch eingesetzt wird. Nicht jedoch bei ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung.

Vor allem das fast einstündige mündliche Gutachten des erfahrenen Sachverständigen hat die dreiköpfige Berufungskammer davon überzeugt, dass eine Haftstrafe in diesem Fall kontraproduktiv wäre. Bei dem Angeklagten liegt eine kombinierte Persönlichkeitsstörung vor, dazu komm adultes ADHS sowohl vom hyperkinetischen als auch vom impulsiven Typus. Durch den Selbstheilungsversuch sei es dann zu der sekundären Abhängigkeit gekommen.

Auf die Anlage mit Heizlampen und Entlüftung in der Wohnung in Christophstal ist die Polizei am 19. April 2016 nur zufällig gestoßen, wie zwei Freudenstädter Beamte als Zeugen berichteten. Ein Besucher des Angeklagten hatte an dem Morgen eine Auseinandersetzung mit ihm und rief die Polizei. Er sei mit einer Sichel bedroht worden. Doch zu der Amtsgerichtsverhandlung darüber war der andere Mann nicht erschienen, der Vorwurf wurde eingestellt. Der Angeklagte war an jenem Morgen betrunken gewesen: Der Gutachter errechnete einen Blutalkoholgehalt zwischen 1,8 und 2,2 Promille.

Als äußerst engagiert zeigte sich der Bewährungshelfer des 34-Jährigen in seiner Zeugenaussage. Die Bewährung bezieht sich auf eine einmonatige Strafe wegen Bedrohung. „Hätte man damals schon die Krankheit in Betracht gezogen, hätte man das vielleicht als bloßes Geschwätz eines Impulskontrollgestörten angesehen“, sinnierte Richter Heuer. „Heute sind wir schlauer“, meinte er und fügte hinzu, dass in naher Zukunft Mediziner statt Juristen die Weichen stellen mögen. Der Angeklagte nahm das Urteil an, die Staatsanwaltschaft behält sich vor, in Revision zu gehen.

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Erstellt:
24.03.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 57sec
zuletzt aktualisiert: 24.03.2017, 01:00 Uhr

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