Explosive Schächte und pazifistische Räte

Archivar erforscht Standorte von Sprengkammern aus dem Kalten Krieg / Wegweisendes Urteil von 1954

Per Zufall stieß Herwart Kopp vor drei Jahren auf eine Sprengkammer am „Diebsteigle“ zwischen Holzhausen und Fischingen. Die spektakuläre Entdeckung weckte das Interesse des Archivars. In monatelanger Arbeit trug Kopp Dokumente über weitere Standorte dieser Abwehrbunker aus der Zeit des Kalten Krieges zusammen.

27.08.2016

Von cristina priotto

Archivar erforscht Standorte von Sprengkammern aus dem Kalten Krieg / Wegweisendes Urteil von 1954

Sulz. Im Zuge der Erfassung von Kleindenkmalen nahm der Archivar die Gemarkung rund um Sulz genauer unter die Lupe – und fand am Rand des Waldwegs an der Gemarkungsgrenze zwischen Holzhausen, Fischingen und Mühlheim das mit Moos überwucherte Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges. „Bis zu diesem Zeitpunkt war es lange nur eine Vermutung“, erzählt Herwart Kopp. Nur die Förster kannten die genauen Standorte.

Neugierig geworden, forschte Kopp in den Archiven von Sulz und Holzhausen sowie im Internet.

Herausgefunden hat der 74-Jährige ganz schön viel: „Neun nummerierte Sprengkammern im Sulzer Stadtgebiet sind aktenkundig“, weiß der Hobby-Historiker jetzt. Ein paar weitere der Schächte, die mit Sprengstoff bestückt werden sollten, sind mündlich bestätigt worden. Die höchste dokumentierte Zahl zur Kennzeichnung eines solchen Bauwerks ist die 22, weshalb Herwart Kopp annimmt, dass es mindestens so viele Sprengkammern auf Sulzer Gemarkung gibt. Was die Größe betrifft, so hatten die Sprengkammern einen Durchmesser von etwa 60 Zentimetern und reichten vier bis sechs Meter tief in den Boden.

Die Schächte befanden sich auf beiden Seiten des Neckars, meist wurden mehrere direkt hintereinander gebaut. Noch gut sichtbar ist eine Sprengkammer am „Dieb-steigle“, auf eine weitere deutet in der „Judensteige“ beim Viehhausweg ein Ring im Boden hin. Ein Problem für die Markierung in Karten ist laut Kopp, dass in den Dokumenten meist nur die Flurnamen vermerkt sind, seltener die exakte Lage. Daher ist lediglich bekannt, dass es im „Stumpensträßle“, am Weg zum Geroldseck, in den „Weilerländern“, über dem ehemaligen Sägewerk Sturm und an der Hopfauer Steige welche gab.

Bei der monatelangen Recherche stieß der Archivar unter anderem auf Tabellen, in denen der „Bedarf an Sprengmitteln bei vorgegebenen Ausbruchradien in Abhängigkeit der vorhandenen Bodenart“ berechnet war: Um zum Beispiel die Umgebung bei kiesigem Untergrund in einem Radius von sechs Metern zu sprengen, wären 700 Kilogramm Sprengstoff nötig gewesen, verteilt auf 28 Ladungen in einer Tiefe von 2,80 Metern.

Den Auftrag zum Bau hatten während des Kalten Krieges zwischen den Westmächten und der Sowjetunion zwischen 1947 und 1989 anfangs die Alliierten erteilt: Für Sulz koordinierte die „Direction du génie“ der französischen Militärverwaltung in Tübingen die Bauarbeiten.

Eine kuriose Entwicklung nahm eine Anfrage des Gemeinderats an den damaligen Sulzer Bürgermeister Walter Wetzel am 24. Oktober 1954: Das Gremium wollte wissen, was Wetzel über die Sprengkammern wisse. Wie sich herausstellte, hatten die Arbeiten begonnen, ohne dass der Bürgermeister informiert worden wäre, bei Privatgrundstücken wussten nicht einmal die Besitzer Bescheid. Bei der Nachsitzung im „Löwen“ schimpften die Stadtväter weiter, und Walter Wetzel versprach, dafür zu sorgen, dass die Nagolder Firma Neubert, die mit dem Bau beauftragt worden war, in- und außerhalb von Sulz nie wieder Aufträge bekäme. Zwei Schachtmeister des Unternehmens ließen den Arbeitstag im selben Lokal ausklingen und wurden von den Kommunalpolitikern als „Landesverräter“ beleidigt.

Auf Betonröhren, die für den Einbau der Schächte verwendet werden sollten, sprühten empörte Bürger mit schwarzer Farbe: „Sulz darf kein Pulverfass werden“.

Darüber hinaus berichtete die Presse über die Sitzung und eine Resolution des Gemeinderats gegen die militärischen Baupläne: „Wir wissen, dass es außerhalb unseres Einflussbereiches liegt, die Ausführung solcher Anlagen zu verhindern. Trotzdem sehen wir uns vor unserem Gewissen und dem Gewissen jedes friedliebenden Menschen verpflichtet, öffentlich Protest zu erheben und die hierfür maßgebenden Stellen zu bitten, mit allen Mitteln den Frieden zu fördern und blutige Auseinandersetzungen zwischen den Völkern als menschenunwürdig zu verhindern“, schrieben die Stadtväter an die französische Besatzungsmacht.

Daraufhin strengte Neubert einen Prozess an und versuchte eine einstweilige Verfügung zu erreichen, dass Wetzel die Firma nicht am Bau hindern dürfe. Zudem kreideten die Kläger dem Schultes an, die Presse nicht an der Berichterstattung gehindert zu haben.

Das Amtsgericht Horb fällte jedoch in Sulz ein Urteil zu Ungunsten Neuberts: Das Unternehmen aus Nagold verlor den Prozess gegen die Stadt Sulz. „Das Urteil fand bei den zahlreichen Zuhörern lebhaften Beifall“, berichtete die Zeitung am 11. November 1954.

Das gerichtlich bestätigte Recht von Kommunen, den Einbau von Sprengkammern an wichtigen Straßen und Verbindungswegen zu verhindern, fand bundesweit Beachtung: Neben der Regionalpresse berichteten auch die „Stuttgarter Zeitung“, das „Neue Deutschland“ und sogar der „Spiegel“ über die Entscheidung des Richters.

Wieviele Schächte danach noch heimlich oder unter Kenntnis der Öffentlichkeit auf Sulzer Gemarkung gebaut wurden, ist unklar. Bei drei Standorten – in Holzhausen, nahe der Kapflochquelle und an der Riedelhalde –  konnte die Stadt aber eine Verlegung durchsetzen.

Kopps Forschungsergebnis zeigt, dass die Sprengkammern zwar keine Ladung, aber jede Menge politischen Sprengstoff enthielten.

Auf einer Karte hat Herwart Kopp alle bekannten Standorte von Sprengkammern entlang des Neckars in Sulz eingezeichnet. Damit wollten die Alliierten während des Kalten Krieges den Vormarsch der Russen verzögern.Privatbilder

Auf einer Karte hat Herwart Kopp alle bekannten Standorte von Sprengkammern entlang des Neckars in Sulz eingezeichnet. Damit wollten die Alliierten während des Kalten Krieges den Vormarsch der Russen verzögern.Privatbilder

Die Entdeckung eines Sprengschachts am „Diebsteigle“ zwischen Holzhausen und Fischingen machte Kopp neugierig – es folgten monatelange Recherchen.

Die Entdeckung eines Sprengschachts am „Diebsteigle“ zwischen Holzhausen und Fischingen machte Kopp neugierig – es folgten monatelange Recherchen.

Wozu gab‘s Sprengschächte?

Sprengkammern oder -schächte wurden während des Kalten Krieges in viele Straßen eingelassen, um den Vormarsch starker militärischer Verbände des Warschauer Pakts zu bremsen.

Die Detonation der Ladung sollte den Vormarsch der feindlichen Truppen möglichst stark verzögern, die benachbarte Infrastruktur aber möglichst wenig in Mitleidenschaft ziehen. Den benötigten Sprengstoff hätten Pioniere im Verteidigungsfall jedoch erst aus nahegelegenen Depotbunkern holen müssen.

Die Lage war artilleristisch vermessen, um die wartenden Gegner direkt unter Beschuss nehmen zu können.

Zum Artikel

Erstellt:
27.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 36sec
zuletzt aktualisiert: 27.08.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!