Schwindendes Gedächtnis

Das Rottenburger Waldhornkino widmete sich mit Film und Gespräch dem Thema Demenz

Gretel Sieverking hatte Alzheimer. Als ihr Sohn, der Filmemacher David Sieverking, das bemerkte, dokumentierte er den Verlauf der Krankheit mit der Kamera. Heraus kam der Film „Vergiss mein nicht“, den das Waldhorn-Kino am Dienstag vor etwa 50 Zuschauern zeigte.

29.09.2016

Von WERNER BAUKNECHT

Rottenburg. Fast fühlte man sich ertappt, wenn man bei dem Film von Sieverking zu dem ernsten Thema Alzheimer laut lachte. Aber dieses Lachen ist vermutlich ganz im Sinne des Regisseurs. Denn er wollte einen „eher fröhlichen Film“ über seine Mutter machen. Gretel, wie sie im Film nur genannt wird, ist 73 Jahre alt. Zuerst schreibt sie sich Erinnerungszettel, dann vergisst sie sogar das. Ihr Mann Malte war Mathematikprofessor. Seinen Ruhestand hatte er sich anders vorgestellt, kümmerte sich aber klaglos um seine Frau.

Als der Sohn sich entschloss, den Krankheitsverlauf zu dokumentieren, bedeutete das auch eine Reise in die Vergangenheit der Eltern. Dazu besuchte er mit ihnen Städte und Menschen, die früher eine Rolle für das Paar gespielt haben. Gretel war eine politische Aktivistin, engagiert, eloquent, ein Alpha-Tier. Und sie war attraktiv. „Du warst die Schönste“, sagt Malte einmal zu ihr. „Wirklich?“, fragt sie und strahlt. Noch immer ist sie eine schöne Dame, vor allem die stets wachen Augen faszinieren. Oft passt das, was sie erzählt, nicht zu dem, wie sie sieht.

Eine Zeit lang kümmerte sich der Sohn um die Mutter. Er ging mit ihr spazieren, kochte mit ihr, ging mit ihr ins Freibad, erlebte, wie sie eine Aprikose mit Butter bestrich. „Das geht nicht, Mutter.“ „Ach so.“ Dann erkannte die Mutter ihn zeitweise gar nicht mehr. Es kam zu absurden Dialogen, die davon handelten, ob David der Sohn, der Vater oder die Tochter sei. Nach einer Woche, sagt der Sohn in die Kamera, sei er schon total erledigt.

Einmal besuchen die Sieverkings Hamburg, die frühere Wohnung, den Kiosk, an dem sie sich kennenlernten, doch die Mutter erinnert sich an nichts mehr. Einmal sagt sie: „Lass uns irgendwo hinsitzen, wo wir nicht sterben.“

Zunächst versuchten sie es mit einer Pflegerin. Schließlich, als es nicht anders ging, weil Gretel auch gesundheitlich angeschlagen war, brachten sie sie ins Pflegeheim. Sie erholte sich schnell. Ihr Mann holte sie wieder nach Hause. Und sie, die eher verschlossen war, öffnete sich. „Jetzt hat sie zum ersten Mal „Ich liebe dich“ gesagt“, verrät er. Sie wurde endgültig zum Pflegefall. Eine litauische Pflegerin kümmerte sich um sie. „Man muss sie behandeln wie ein Kind“, sagt sie im Film. Im Februar 2012 starb Gretel Sieverking.

Im Anschluss an den Film erzählte Christoph Laske, Professor an der Tübinger Memory Clinic, von seinen Erfahrungen mit der Krankheit. Die Memory Clinic gehört zur Uniklinik Tübingen, und bietet Gedächtnissprechstunden, die der Früherkennung von Gedächtnisproblemen dienen. Er berichtet, dass mit Alzheimer auch der Verlust von Alltagsfertigkeiten einher geht. Dinge, die man bisher im Schlaf konnte, bereiten plötzlich Probleme.

Alzheimer ist eine spezielle Form der Demenz, mit 60 bis 70 Prozent allerdings die häufigste. Auf Nachfrage aus dem Publikum berichtete er von Forschungen, die sich eher auf das Anfangsstadium der Krankheit richten. Medikamente können da noch den Verlauf verlangsamen. Aufzuhalten oder zu heilen ist Alzheimer bislang allerdings nicht.

Eine Vererbung der Krankheit sei nicht nachgewiesen, sagte Laske. Allerdings gebe es ein erhöhtes Risiko, wenn die Krankheit bereits in der Familie auftrat. Laske schlug einen „mediterranen Lebensstil beim Essen“ vor: Viel Fisch, Gemüse, auch mal einen Rotwein. Laut Studien verbindet viele Demenzkranke eine Neigung zur Introvertierheit und eine schnelle Stressreaktion. „Es ist eine schlimme Erkrankung“, sagte der Professor, „aber es gibt Hoffnung. Vor allem sollte man liebevoll mit den Betroffenen umgehen – wie im Film.“

Therapie kann nur die Symptome lindern

Demenz umfasst Defizite in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Insgesamt steht der Begriff für mehr als 50 Krankheitsformen (wie die Alzheimer-Krankheit oder vaskuläre Demenz, die auf Durchblutungsstörungen im Gehirn zurückzuführen ist). Es gibt inzwischen verschiedene Behandlungsmöglichkeit bei Demenzerkrankungen, heilbar ist die Erkrankung in der Regel nicht. Stattdessen zielt die Therapie darauf ab, die Symptome zu lindern und das Fortschreiten der Erkrankung zu bremsen. Das hilft den Patienten, möglichst lang ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.

Zum Artikel

Erstellt:
29.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 29.09.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!