Schmalz nur auf dem Brot

Die Gäste der TAGBLATT- Gutenachtgeschichte in Börstingen hörten gehaltvolle Texte

Gut achtzig Literatur-Interessierte fanden sich zur TAGBLATT-Gutenachtgeschichte am Dienstagabend vor dem Börstinger Rathaus ein. Was Monika Golla und Michael Dietz vorlasen, war mehr als fluffiger Nachtisch fürs Wohlempfinden.

18.08.2016

Von Gert Fleischer

Gutenachtgeschichte in Börstingen: Die Bläsergruppe des Musikvereins und rechts im Sessel vor ihrem Auftritt Monika Golla und Michael Dietz. Bild: Fleischer

Gutenachtgeschichte in Börstingen: Die Bläsergruppe des Musikvereins und rechts im Sessel vor ihrem Auftritt Monika Golla und Michael Dietz. Bild: Fleischer

Börstingen. Linkerhand leuchtete Schloss Weitenburg in der Abendsonne, über dem wuchtigen Lese-Sessel blühten noch vereinzelt Glyzinien im Rankwerk, der Blick nach rechts entdeckte durch die schmale Gasse zwischen zwei Häusern hindurch die Spitze des Kirchturms, der sich gelegentlich begleitend hören ließ. Die Eröffnungs-, Pausen- und Schlussmusik aber machte ein Bläserseptett des Börstinger Musikvereins mit Melodien von Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ bis zum Börstinger Heimatlied von Oskar Deyringer, dem früheren Schulrektor des Orts. Als die Musiker sich ganz zum Schluss etwas verspielten, bekamen sie besonders herzlichen Applaus, freundliche Zurufe sogar – so gut war die Stimmung am Ende der Gutenachtgeschichte.

Monika Laufenberg, die Vorsitzende des gastgebenden Fördervereins Heimat und Kultur in Börstingen, moderierte den Abend bestens vorbereitet. Sie machte Appetit auf die „handgeschmierten Börstinger Schmalzbrote“ und die Ananas-Mostbowle, „im Fass patentiert“. Substanz dieses Patents ist der 54-prozentige Rum, mit dem Bowle-Macher Klaus Warnke den weitgereisten Ananas desinfiziert.

Die Klang-, Foto- und Videokünstlerin Monika Golla, die im Börstinger Schulhaus zusammen mit dem Installationskünstler Frank Fierke den Kunstort „Eleven“ aufgebaut hat, sei im Zuge ihrer Diplom-Arbeit „Wandlung der Unschuld“ auf die Betrachtung „Schuhe“ von Danilo Kiš gestoßen, erzählte Laufenberg. Ihre Arbeit habe sich mit Schuh-Fetischismus beschäftigt, erklärte Golla, „etwas, das mir absolut fremd war“. Und weil fast alle Frauen unendlich viele Schuhe im Schrank haben, schob Golla sofort nach: „Nein, Frauen sind keine Fetischisten, Frauen sind Sammler. Fetischisten sind eher die Männer.“ Selbst so ein gelegentlich nützlicher Gegenstand wie ein Schuh könne „seine Unschuld verlieren, etwa durch die Betrachtungsweise eines Fetischisten“.

Ob Kiš ein Fetischist war, verriet Golla nicht, aber unter seinem Blick veränderten sich zwei Schuhe „zu einem seltsamen Tierpaar“, zu zwei schwarzen Katzen, die ihn peinigten. Alltagspraktisch, wie Männer trotz aller anderer nachgesagten Veranlagungen sind, hatte Kiš mit einem Rasiermesser zwei Schlitze in seine Schuhe geschnitten, „da wo ich Schwielen hatte“. Seine Freundin verließ ihn deshalb, dachte sie doch, er habe das lederne Fußkleid nur zerstört, um nicht mit ihr ins Theater gehen zu müssen.

Michael Dietz, der zweite Vorleser am Dienstagabend, hatte zuerst – vor vielen Jahren – den Film gesehen, bevor er zum Buch kam. „Die Schwabenkinder“ von Elmar Bereuter. Ein Besuch im Vorarlberg-Museum in Bregenz gab den letzten Ausschlag, berichtete er. Als Sportler, Marathonläufer, ist er auch den Wanderpfad schon gegangen, der die Wege der Schwabenkinder nachzeichnet. Der sei klasse, sagte Dietz. Und dass die aktuelle Flüchtlingssituation manche Parallele zum Roman biete.

Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert schickten arme Familien aus den Alpentälern im zeitigen Frühjahr ihre Kinder nach Oberschwaben. Dort wurden sie auf Märkten für eine Saison an wohlhabende Bauern verkauft. Der Roman handelt vom neunjährigen Kaspanaze, den erst niemand wollte, weil er so mickrig war. Baptist Gebstetter, ein freundlicher Mann, nahm ihn mit „aus christlicher Barmherzigkeit“.

Mit dieser Freundlichkeit war es rasch vorbei. Gebstetters Frau konnte ebenso garstig sein, schalt ihren Mann, weshalb er schon wieder so einen Schwächling anschleppe, der mehr wegfresse als er leiste. Bereuter beschreibt, wie sich Kaspanaze in dieser Umgebung durchschlägt.

Monika Laufenberger sprach das Schlusswort, von „Ruhe und Frieden und genug zu essen“ nicht nur in Börstingen: „Es ist ein Geschenk, hier leben zu dürfen.“

Buchgutscheine erhielten die beiden Vortragenden von der Buchhandlung Osiander, die die Gutenachtgeschichte mit dem TAGBLATT zusammen organisiert. Die Spendenhüte erbrachten 160 Euro für die Jugendarbeit des Musikvereins.

Die Gäste der TAGBLATT- Gutenachtgeschichte in Börstingen hörten gehaltvolle Texte

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Erstellt:
18.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 46sec
zuletzt aktualisiert: 18.08.2016, 01:00 Uhr

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