Brennpunkt

„Horb ist kein heißes Pflaster“

Der Bahnhofsvorplatz ist in die Schlagzeilen geraten. Doch die beiden Sozialarbeiter Holderried und Trick warnen vor einer Stigmatisierung.

26.05.2017

Von Dagmar Stepper

Wo sind nur die Sitzbänke hin? Rüdiger Holderried (links) und Manuel Trick setzten sich daher auf die Blumentröge. Bild: Breitmaier

Wo sind nur die Sitzbänke hin? Rüdiger Holderried (links) und Manuel Trick setzten sich daher auf die Blumentröge. Bild: Breitmaier

Die Wohnung ist klein. Knapp 15 Quadratmeter. Es gibt weder Balkon noch Terrasse. Sie liegt in einem Horber Teilort. Ich habe keine Arbeit. Es ist die Gesundheit. Morgens stehe ich um 8 Uhr auf. Die Decke fällt mit auf den Kopf. Ich mache den Fernseher an. Ich muss raus. Im Bus schauen mich die Leute komisch an. Vom Leben gezeichnet, höre ich jemanden tuscheln. In Horb gehe ich zum Bahnhof. „Hey, wie geht‘s“, wird mir entgegengerufen. Gleich fühle ich mich besser. Es ist meine Familie.

„Das sind die Menschen, die am Bahnhof sind“, sagt Rüdiger Holderried. Er erzählt diese Geschichte bei einem Pressegespräch. Der Grund dafür sind die Vorkommnisse am Bahnhofsplatz in den vergangenen Wochen. Oder besser gesagt: Die Berichte darüber und was in der Öffentlichkeit geredet wird. Holderried – Horbs Caritas-Chef und Streetworker – und sein Kollege Manuel Trick von der Erlacher Höhe stören sich daran. „Wegen einer Person wird eine ganze Gruppe stigmatisiert“, sagt Holderried. Er lehnt pauschale Urteile ab. Wenn von „denen“ gesprochen wird. „Das ist Kollektiv-Strafe“, sagt er.

Nur für Busreisende.

Anfang Mai kam es am Bahnhofsvorplatz zu einer Schlägerei. Seither ist dort vieles anders geworden. Der Platz ist ein Treffpunkt für eine Gruppe, die nicht in die Norm passt. Hartz IV-Empfänger, die tagsüber schon mal Alkohol trinken. Manchmal pöbelt einer. Doch meistens lassen sie die anderen Leute in Ruhe. Es ist eine Gruppe, wie man sie in fast jeder Stadt am Bahnhof trifft. Trick verbietet sich daher das Wort „Problemszene“. „Horb ist kein heißes Pflaster“, sagt er mehrmals. Doch nach der Schlägerei hat die Stadt in einer Art Hau-Ruck-Aktion, die Bänke am Bahnhof abbauen lassen. Die Gruppe hat jetzt keine Sitzgelegenheit mehr. Manchmal setzen sie sich aus Protest auf den Boden. Oder drängen sich zu dritt auf die noch verbliebenen Steinquader.

Die Stadt sagt auf unsere Anfrage hin, dass das Umsetzen der Bänke nichts mit der Gruppe zu tun habe, sondern mit dem Umbau des Busbahnhofs. Der Wirt des Gleis Süd, Carsten Müller, habe angeboten, dass er im Bereich seiner Außengastronomie Sitzmöglichkeiten bereitstelle. Wer sich hier niederlässt, müsse nichts konsumieren. Tatsächlich stehen jetzt zwei Bierbänke dort. Allerdings klebt ein Plakat darauf: Nur für Busreisende.

Das „Bank-Problem“ wollen Holderried und Trick gar nicht so hoch hängen. Die beiden verlassen sich auf die Zusage der Stadt, dass mit dem neuen Busbahnhof es auch wieder entsprechende Sitzgelegenheiten geben soll. Doch die beiden haben das Gefühl, dass die Gruppe am Bahnhofsvorplatz nicht erwünscht sei. Und dagegen wehren sie sich. „Es sieht so aus, als wolle man die Gruppe völlig vertreiben“, sagt Trick. Für Holderried ist der Platz aber ein öffentlicher Raum. „Wem gehört der öffentliche Raum? Dem Gleis Süd oder dem Kaufland? Nein, der öffentliche Raum gehört allen!“

Klar komme es zu Reibereien, zu Pöbeleien, zu Zwischenfällen. Aber es sind Einzelne, die austicken. Wie eben bei der Schlägerei, als Sperrmüll zur Tatwaffe wurde. Oder am Dienstagabend als eine Bedienung des Gleis Süd angegriffen wurde (siehe Bericht unten). Solche Angriffe sollen nicht kleingeredet werden. Holderried sagt deutlich, dass Polizei und Justiz hier eingreifen müssen. Dann müsse auch ein Platzverweis erteilt werden. „Aber nicht alle am Bahnhofsplatz sind kriminell“, sagt Trick. „An diesem Platz ist nicht jeden Tag eine Schlägerei. Wenn hier ein Mal im Monat was passiert, dann ist es viel“, ergänzt Holderried.

Fast wie eine Familie

Seit der Schlägerei vor zwei Wochen fährt die Polizei mehrmals täglich am Bahnhofsvorplatz vorbei. Häufig ist es ruhig, dann fahren die Beamten weiter. Wenn nicht, dann kontrollieren sie. Horbs Revierleiter Markus Mast kann nicht sagen, ob die Anzahl der Zwischenfälle in den vergangenen Wochen gestiegen sind. Aber er bestätigt, was die beiden Sozialarbeiter beobachtet haben: „Es sind einzelne Personen, die polizeibekannt sind.“

Die Polizei kann einen Platzverweis erteilen und die Leute für eine Nacht zum Revier mitnehmen. „Das ist alles aber nur kurzfristig“, meint Mast. Polizei und Stadt arbeiten bei dem Thema eng zusammen. Eine Möglichkeit ist auch, dass die Stadt bei Wiederholungstätern ein längeres Aufenthaltsverbot verhängt. Das kann bis zu drei Monaten gehen. Die Polizei kann dann kontrollieren, ob das eingehalten wird.

Die Gruppe am Bahnhofsvorplatz hat einen harten Kern von fünf Leute, die sich fast täglich treffen. Andere stoßen hin und wieder dazu. Wenn ihnen in ihrer kleinen Wohnung eben die Decke auf den Kopf fällt. „Das ist fast wie eine Familie“, beschreibt es Trick. Die jetzt auseinanderbricht. Denn seit die Bänke weg sind, bleibt auch der größere Kreis fern. Der harte Kern ist nun auch an anderen Plätzen anzutreffen. Aber von Verlagerung will Horbs Revierleiter Markus Mast nicht sprechen: „Die Gruppe zieht es immer wieder an den Bahnhof zurück.“ Der Sozialarbeiter Rüdiger Holderried kann das verstehen: „Da ist was los. Das ist eben ihr Treffpunkt.“

Die beiden Sozialarbeiter sind drei bis vier Mal in der Woche draußen bei der Gruppe. Sie setzen sich dazu, reden mit ihnen. Daher kennen sie die Lebensgeschichten. Wissen, welches Schicksal sie erlitten haben. Warum sie auf dem Bahnhofsvorplatz sitzen und morgens schon mal das erste Bier kippen. „Sie wurden nicht so geboren, es steckt was dahinter“, beschreibt es Holderried, „das ist eben der Mensch.“

Kollektivschuld

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Erstellt:
26.05.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 45sec
zuletzt aktualisiert: 26.05.2017, 01:00 Uhr

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