Im Kostümfundus hängt Hänsel neben Sissi

In Gerda Weinundbrots Laden schlüpfen Kunden nicht nur zur Fasnet in andere Identitäten

Im Kostümverleih von Gerda Weinundbrot in Stein bei Hechingen locken rund 5000 Gewänder, Hüte, Perücken und Accessoires ganzjährig zu Rollenspielen. Gerade über Fastnacht herrscht hier Hochbetrieb.

07.02.2016

Von susanne mutschler

Wolfgang Stepp überlegt noch: Geht das so als Charlie Chaplin? Klar, findet Schneiderin Gabi Kautter. Bild: Franke

Wolfgang Stepp überlegt noch: Geht das so als Charlie Chaplin? Klar, findet Schneiderin Gabi Kautter. Bild: Franke

Hechingen/Stein. „Helden der Kindheit“ heißt das diesjährige Motto des Hechinger Preisballs. Wolfgang Stepp schwankt bei seinen Verkleidungsideen noch zwischen der Märchenfigur Hänsel und Charlie Chaplin im Film „Lichter der Großstadt“. Gabi Kautter, Nichte der Kostümverleiherin Gerda Weinundbrot, verschwindet in den engen Korridoren zwischen prall vollgehängten Kleiderstangen. Als sie nach kurzer Suche mit einem Frack mit ellenlangen Schößen, einer eleganten Fliege, einer Melone und sogar dem unentbehrlichen Stöckchen zurückkehrt, fällt die Entscheidung leicht. Ein Kleid, um seine Partnerin als armes Straßenmädchen zu kostümieren, werde sich finden, ist Stepp überzeugt.

Helmut Eisler aus Hörschwag braucht nur eine Minute für seine Kostümwahl. Der 21-jährige Theologiestudent soll auf der Burladinger Fasnet „Das Wort zum Sonntag“ halten. In seiner Tüte sind Talar, Beffchen und ein Barett. Seit dem Film „Sister Act“ brauche sie auch die Ausstattung zu Mönch und Nonne dauernd, erzählt Gerda Weinundbrot. Vor 26 Jahren begann die 70-jährige Friseurmeisterin in Stein bei Hechingen mit ihrem Kostümverleih.

Klaus Windisch aus Ofterdingen kramt zwischen venezianischen Spitzenhemden und glänzenden Satin-Capes. In Weinundbrots Laden werde er immer fündig: „Hier ist immer alles fertig da.“ Die Requisiten Dreispitz und Zopfperücke, die Kautter ihm anbietet, probiert er zwar kurz auf und staunt über die Verwandlung seiner Persönlichkeit, verzichtet dann aber doch: „Viel zu warm für den Tango-Maskenball“, zu dem er eingeladen ist.

Nähen hat Weinundbrot in der Hauswirtschaftsschule gelernt, bevor sie ihre Ausbildung zur Friseurin begann. Ihre Nichte Gabi Kautter ist gelernte Schneiderin. Seit 20 Jahren sitzt sie für den Kostümverleih an der Nähmaschine. Gerade ist sie dabei, ein uraltes, mürbe gewordenes Spitzenkleid zu retten. Darin sei die Urgroßmutter ihrer Tante vor rund 120 Jahren über die Melchinger Alb spaziert. „Eigentlich ist es zu schade zum Verleihen“, sagt Weinundbrot, aber jedes Mal, wenn genau dieses feine Gewand verlangt wird, gibt sie es doch wieder her.

Die Bisinger Lehrerin Inke Lüdeking sucht eine Ausstattung im Disco-Look der 1980er Jahre. Die Rollschuhe für die Feier mit den Kollegen hat sie schon gekauft. In diesem Jahr will sie endlich richtig mitmachen bei der Fasnet, hat sie sich vorgenommen.

Silke Ling-Riegger aus Engstlatt hat das Internet ins Kostümparadies geführt. Zusammen mit ihren Freundinnen sei sie „auf gut Glück“ hergekommen. Mit großem Vergnügen blättern sich die Frauen durch die bunten Petticoat-Kleider der 1950er Jahre. Dass sie für ihre Geburtstagseinladung keine passende Verkleidung finden werden, scheint kaum vorstellbar.

Aus dem Hochzeitskleid wird ein Zombie-Dress

Zwischendurch nimmt Weinundbrot eine telefonische Bestellung über zwei Supermänner und drei Supergirls an. Die Menge und die Größen der Kostüme sind kein Problem für das Kostümparadies. Gleich morgen werde das Päckchen auf die Post gehen, verspricht Weinundbrot.

Rund 5000 frisch gereinigte Kostüme und Ausgehgarderoben hängen – säuberlich nach Themen und Mottos sortiert – auf den 120 Quadratmetern eines ehemaligen Edeka-Ladens. Auf sehr viel Mittelalterliches folgt reichlich Barockes mit Volants und Spitzen. Von den zünftigen Trachtenausstattungen geht es gleich um die Ecke zu den Haremsgewändern und der Konfektion für Römer und Ägypter. Für Steinzeitfreunde führt Weinundbrot Tragbares aus Fell und Rupfen. Auf einem langen Kleiderständer hängt die komplette Modegeschichte seit den 1920er Jahren.

Weil Kautter und Weinundbrot bisweilen ganze Tanzensembles ausstatten, gibt es manche Outfits auch in Serie. Dicht an dicht hängen Abba-Kostüme oder Cancanröcke. Allein das Zuschneiden der vielen Rüschen habe pro Rock zehn Stunden gedauert, erinnert sich Weinundbrot. Aber beim Verleihen seien sie „immer noch ein Renner“. Als die Hechinger Chorgemeinschaft für einen Auftritt Barockkostüme bestellte, „haben wir genäht und genäht und genäht“. Jedes einzelne Kleid wurde der Figur der Trägerinnen angepasst. Nach der Aufführung kehrten die Gewänder nach Stein in den Fundus zurück.

Auch die Kostüme der 40 Ellwanger Chormitglieder, die 2015 mit dem Musical „My Fair Lady“ nach Balingen kamen, entstanden im Laden von Gerda Weinundbrot. Inzwischen touren die Kleider der Eliza und die riesigen Tüll-Hüte aus der Ascot-Szene im freien Verleih. Nach diesem Prinzip funktioniert Weinundbrots Laden. „Einen Kostümverleih darf man nicht als Geschäft sehen“, kommentiert die Inhaberin ihre überschaubaren Einkünfte aus den Verleihgebühren. „Das ist eine Leidenschaft“.

Auch an fertig gekauften Kostümen wird noch viel herum genäht. „Die sind uns nicht schön genug“, sagt Gerda Weinundbrot. Aus alten Hochzeitsroben etwa entstehen hochadelige Sissi-Kostüme, oder sie verwandeln sich unter den geschickten Händen ihrer Enkelin Jasmin Melhuish in die dekorativ blutbeschmierten Hüllen, die Zombie-Bräute an Halloween tragen. „Darauf fahren die jungen Leute ab“, hat die Verleiherin beobachtet.

140 Wickel für das Rokoko-Fräulein

Die Lust am Verkleiden hat sie schon als Kind bei der Melchinger Fasnet gelernt. „Ausgefallene Kleidungsstücke hat man bei uns immer für die Fasnet aufgehoben“, erinnert sie sich. Bei einem der immer noch ausleihbaren Ballkleider weiß sie sogar noch den Anlass, zu dem sie es 1972 selbst getragen hat. „So was Extravagantes schmeißt man doch nicht weg“, findet sie. So sei ihr Fundus allmählich entstanden – „und es wird immer mehr“. Als sie 1984 in Stein ihr Friseurgeschäft eröffnete, wussten ihre Kunden bald, dass die Chefin Kleidervorräte für besondere Gelegenheiten hortete. Von 1990 an nahm der Kostümverleih dann immer mehr Platz im Salon an.

Zum Frisieren kommen mittlerweile nur noch ein paar alte Stammkundinnen. „Mit den über 80-Jährigen ist das eine gewachsene Freundschaft“, sagt Weinundbrot, während sie an der Trockenhaube hantiert. Ihr Talent für Haare nutzt die Friseurmeisterin inzwischen vor allem für die aufwändigen Hochsteckfrisuren der Rokokoperücken. Pro Lockenkopf dreht sie rund 140 Wickel ein. Oft hält die silberne Pracht dann gerade einen närrischen Tanzabend lang.

Auch das Jahr über ist der Laden in der Römerstraße eine gefragte Adresse, wenn es für eine Themenparty, eine Tanztruppe oder eine Theateraufführung die passenden Klamotten braucht. Fotografen holen bei Weinundbrot ihre Requisiten, Musiker leihen sich Fräcke, Schulabgängerinnen ihre Ballkleider. Auch Gesangvereine und Volkstanzgruppen, Laienschauspieler und Schultheater versorgen sich aus dem Fundus in Stein. Dazu kommen die historischen Märkte und Mittelalterfeste, und vor den Oktoberfesten gehen im Verleih fast die Dirndl und Lederhosen aus.

Das Kostümparadies Weinundbrot

Gerda Weinundbrots Kostümverleih in Hechingen/Stein (Römerstraße 10) ist jeden Mittwoch, Donnerstag und Freitag (14 bis 18 Uhr) geöffnet. Verkleidungen vom Burgfräulein über den spanischen Flamenco-Tänzer bis zum bayerischen Dirndlmädl können auch über 0 74 71/36 51 oder 0 74 71/49 32 geordert werden. E-Mail- Kontakt: info@kostuemparadies.de

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Erstellt:
07.02.2016, 16:55 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 15sec
zuletzt aktualisiert: 07.02.2016, 16:55 Uhr

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