Interview zur Doku „Berlin Rebel High School“

Lehrer, die das „Klaus-ige“ haben

Am Samstag stellte Regisseur Alexander Kleider seinen Film „Berlin Rebel High School“ über eine Schule für Schulversager im Tübinger Kino Arsenal vor.

15.05.2017

Von Michael Sturm

Regisseur Alexander Kleider, Film-Premiere „Berlin Rebel High School“, Arsenal-Kino Mai 2017 Michael Sturm

Regisseur Alexander Kleider, Film-Premiere „Berlin Rebel High School“, Arsenal-Kino Mai 2017 Michael Sturm

Seine Dokumentation „Berlin Rebel High School“ wurde mit dem zweiten Preis des Deutschen Schulpreises bedacht. Am Samstag begleitete der aus Waldenbuch stammende Regisseur Alexander Kleider seinen Film über eine Klasse der Berliner Schule für Erwachsenenbildung (SFE) nach Tübingen. Im liberalen Konzept der SFE entscheiden die Schüler mit, lernen so, Verantwortung zu übernehmen und machen, wenn es gut läuft, in drei Jahren das Abitur. Ein Doppel-Interview mit Kleider und Thorsten Bohl, Leiter der Tübinger „School of Education“ und in dieser Funktion auch hiesiger Pate des Films.

Herr Kleider, Sie gingen selbst auf die SFE. Fühlten Sie sich zuvor in ihrer alten Schule unwohl?

Alexander Kleider: Ja. Ich ging in Schwäbisch Hall zur Schule – und hatte Probleme. Ich bin nach der zehnten Klasse abgegangen und bin Erzieher geworden. Bevor ich dann zur SFE ging, habe ich mich in einem Kolleg vorbereitet. Ab der zweiten Woche hatte ich wieder einen Klops im Hals: Schüler und Lehrer waren genauso spleenig wie in meiner alten Schule.

Was änderte sich an der SFE?

Dort habe ich die Hälfte der Sachen gelernt, die ich im Leben brauchen kann. Das Leben zu lernen ist Schule in Pur-Form. Das staatliche Schulsystem hat sich seit dem Kaiserreich nicht verändert: Es geht um die Wiedergabe von Wissen. Aber dort haben viele nicht gelernt, für die eigenen, tollen Ideen einzutreten.

Herr Bohl, was sagt der Erziehungswissenschaftler zur SFE?

Thorsten Bohl: Die Forschung würde sagen, diese Schule kann nicht funktionieren: Die Führung des Lehrers ist schwach ausgeprägt, Zielorientierung ist dort verpönt. Aber sie funktioniert! Der Film zeigt, wie leicht es die Lehrer an der SFE aushalten, Verantwortung mit ihren Schülerinnen und Schülern zu teilen.

Und wie entspannt sie sind.

Kleider: Die Lehrer an der SFE nehmen in Kauf, weniger zu verdienen. Klaus, der Lehrer dieser Klasse, war früher auch mein Lehrer. Er lebt in einer WG und hat Freunde. Da kenne ich andere Lehrer, die sind bereits im Vorruhestand. Du siehst ihnen an: Die haben einen Leidensweg.

Wie sind Sie auf diesen Weg gekommen?

Kleider: Im staatlichen System spielt die Lehrerpersönlichkeit eine untergeordnete Rolle. Da haben sie die Anspannung, am nächsten Morgen etwas darstellen zu müssen. In meinem Film geht es auch darum: Wie wohl muss sich der Lehrer fühlen? Ich finde, so wohl wie in seinem Wohnzimmer. Im Film, zelebriert Klaus seine Lässigkeit. Er hat Spaß und ist im Leben glücklich. Dadurch ist er ein gutes Vorbild. Woanders gibt es einige Lehrer, die das „Klaus-ige“ haben, können es aber nicht ausleben.

Bohl: An einer staatlichen Schule wäre er kaputt! Da braucht man eine gradlinige, harte Aura. Im staatlichen System sind viele Lehrer hoch belastet.

Kleider: Verängstigt auch.

Das Konzept der SFE ist ungewöhnlich: Kein Rektor, keine Noten, die Schülerinnen und Schüler verwalten die Schule selbst. Der Film zeigt Lernende, die an „normalen“ Schulen zuvor nicht zurecht kamen. Warum?

Kleider:Leute, die im staatlichen Schulsystem durchkommen, sind ein spezifischer Typus – sie können fotografisch lernen. Sie liefern die besten Resultate und schaffen es schnell in Spitzenpositionen. Es gibt hierzulande aber auch ein hohes Potenzial an kreativen Querköpfen. Wenn die keinen Abschluss haben, kommen sie nicht auf dieselbe gesellschaftliche Ebene und sehen sich als gescheitert an.

Bohl: Das ist ein Verlust für die Gesellschaft. Wir haben bundesweit rund 50 000 Schulabbrecher im Jahr, die ohne Abschluss blieben. Wir brauchen eine gesellschaftliche Lösung.

Was läuft in der „klassischen“ Schule falsch?

Bohl: Die Schule hat im Lauf der Jahre eine spezifische Tradition, eine ausgeprägte Kultur im Alltag samt bestimmtem Lernmilieu entwickelt. Das zu ändern ist ein langer, kleinteiliger Prozess. In allen Schulen gibt es ein Merkmal: Die Begeisterung eines Lehrers trägt die Schüler durch alle Systeme. Wir brauchen Lehrer-Persönlichkeiten mit einem bestimmten Blick auf die Gesellschaft: Es geht um die Würde des Menschen. Da tun sich die anderen Schulen schwer.

Kleider: Weil es kein Thema ist. Heute bekommt man Bildung aus dem Internet. Aber wir unterliegen dem Vermessungswahn. Diese Form der Wissensvermittlung ist von vorgestern. Die Fähigkeiten auf menschlicher Ebene als „Soft Skills“ zu bezeichnen ist eine Herabwürdigung. Das sind die wichtigen Skills. Für mich als Filmemacher ist es die Krönung, dass dieser Film – eine Ode an einen wunderbaren Beruf – eine Basis zur Diskussion liefert. Ich freue mich immer, wenn Lehramtsstudenten kommen.

Mit Vermessungswahn meinen Sie die Notengebung, die ständige Bewertung in Skalen und Tabellen. Warum hält das staatliche Schulsystem daran so hartnäckig fest? Ihr Film zeigt ja, dass flache Hierarchien funktionieren können.

Kleider:Es ist die Angst, Pandoras Box zu öffnen. Die Bewertung ist zum Fetisch geworden. Es geht um das Vertrauen. Das müssen wir entwickeln, sonst haben wir lauter Menschen, die falsch konditioniert sind – auf Vergleich und Wettbewerb.

Bohl: Und die mit der Wahrheit umgehen, wie mit einem Taschentuch. Man muss die Frage stellen, welchen Stellenwert Demokratie in der Schule haben muss, um gesellschaftlich gegensteuern zu können.

Was ist noch dafür nötig?

Kleider:Es geht um die Entkopplung von Tun und Handeln einerseits und der Bewertung andererseits. Wir sind alle ein Produkt davon: Den Menschen ist der Status meist wichtiger als ihre Entfaltung. Der Status produziert den Vergleich. So wählen viele einen Beruf, der an ihrer Persönlichkeit vorbei geht. Meine Tochter ist jetzt 17. Sie will Psychologin werden. Dafür braucht man einen Abi-Schnitt von 1,2. Gerade steht sie bei 1,7. Sie war krank. Sie macht sich Sorgen. Es ist schon enorm, in dem Alter eine lebenslange Entscheidung treffen zu müssen.

Herr Bohl, welches persönliche Fazit ziehen Sie, nachdem Sie den Film gesehen haben?

Bohl: Der Film zwingt, grundsätzlich über Pädagogik nachzudenken. Wir sind geprägt von den Pisa-Balken, den Rankings. Als Teil des Monitoring braucht man das. Aber das verdeckt die Sicht auf die Fragen.

Herr Kleider, wie sind Sie vorgegangen? Was konnten Sie planen? Worauf haben Sie vor dem Dreh gehofft?

Kleider: Man überlegt, wo sind die Knackpunkte? Das waren die Prüfungen: Du schreibst ein Drehbuch und gleichst es immer wieder an die Realität an. Ich war dankbar für Typen wie Flo. Er war schwierig zu drehen, weil er alles in Frage stellte. Aber eigentlich ist er die wichtigste Figur im Film.

Haben Sie eine Lieblingsszene oder Lieblingssequenz?

Kleider: Alex ließ seinen Taschenrechner in der Plastikverpackung. Die machte er nicht auf. Er sagte, wenn er sie zulässt, kann er den Taschenrechner wieder in dem Laden, in dem er ihn gekauft hat, zurückgeben. Ich dachte mir, wenn er die Verpackung aufmacht, muss ich dabei sein! Ich wusste, das ist eine Sequenz, die wird funktionieren.

Hat er den Taschenrechner nie benutzt?

Kleider: Er hat durch das Plastik hindurch getippt, aber es hat nie funktioniert. Das hat er monatelang so gemacht, bis er den Taschenrechner dann doch auspackte.

Herr Bohl, gibt es ihrerseits Kritikpunkte an diesem Film?

Bohl: Ich finde ihn erstaunlich konfliktlos ...

Kleider: Konflikte bieten ein bisschen die Szenen mit Flo ...

Bohl: ... aber das ist eher Nörgeln.

Kleider: Krach hätte ich schon gebraucht. Aber die Klasse war harmonisch – das war sehr identisch mit meiner eigenen Geschichte.

Bohl: Es ist jedenfalls sehr eindrücklich, wie sensibel alle miteinander umgegangen sind.

Thorsten Bohl.

Thorsten Bohl.

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Erstellt:
15.05.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 43sec
zuletzt aktualisiert: 15.05.2017, 01:00 Uhr

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