Schwellen und Ängste

Mössinger Schüler des Firstwald-Gymnasiums testen die Stadt auf ihre Barrierefreiheit

Zwei Klassen des Mössinger Firstwald-Gymnasiums waren am Montag auf „Tour für eine barrierefreie Stadt“. Das Projekt organisierte der Landesverband Selbsthilfe Körperbehinderter Baden-Württemberg.

10.05.2016

Von Susanne Mutschler

Für Rollstuhlfahrer birgt die Mössinger Innenstadt so manches Hindernis. Diese Erfahrung machten gestern unter anderem Schülerinnen und Schüler des Firstwald-Gymnasiums und Baubürgermeister Martin Gönner (rechts im Rollstuhl). Links im Rollstuhl: der Kreisbehindertenbeauftragte Willi Rudolf. Bild: Franke

Für Rollstuhlfahrer birgt die Mössinger Innenstadt so manches Hindernis. Diese Erfahrung machten gestern unter anderem Schülerinnen und Schüler des Firstwald-Gymnasiums und Baubürgermeister Martin Gönner (rechts im Rollstuhl). Links im Rollstuhl: der Kreisbehindertenbeauftragte Willi Rudolf. Bild: Franke

Mössingen. Uns sind die Augen aufgegangen“, sagt Regine Walter, als sie mit ihrer Abiturienten-Klasse vom Rundgang durch Mössingens Ortsmitte zurückkehrt. Den von Philipp Reitter begleiteten Achtklässlern geht es nicht anders. „Für Menschen mit Behinderungen ist es wesentlich komplizierter, durch Mössingen zu kommen, als ich mir vorstellen konnte“, staunt die Firstwaldlehrerin.

Mit Rollstühlen, Rollatoren, Blindenstöcken und Simulationsbrillen ausgestattet, waren die jungen Leute ausgeschwärmt, um städtebauliche Schwachstellen herauszufinden, die Menschen mit Behinderungen an der Teilhabe am öffentlichen Leben behindern. „Es geht um einen Perspektivwechsel“, erklärt Sabine Goetz von der Aktion Mensch, die den Städtetest leitet. „Wir müssen lernen, unsere Umgebung so wahrzunehmen, dass sie für alle zugänglich ist.“

„Die Kommunen sind der Schlüssel für die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen“, ergänzt Landesbehindertenbeauftragter Gerd Weimer. Ziel sei es, „die Inklusion in die Fläche bringen“.

Suche nach einer Toilette ein Beinahe-Fiasko

Barrierefreiheit nütze nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch Müttern, Kindern, Senioren und Patienten auf Zeit.

Jede Simulationsgruppe wird von Mössingern begleitet, die wirkliche Erfahrungen mit Behinderungen haben. Marlene Kurz, die seit 42 Jahren auf ihren Rollstuhl angewiesen ist, macht die Jugendlichen auf eine Menge Hindernisse aufmerksam, die sich ihr unverhofft in den Weg stellen. Sie kennt in Mössingens Straßen jeden Pflasterbelag, jeden Randstein und jede unüberwindliche Staffel. Niedere Schwellen schafft sie mit einem geschickten Rucken ihres 17 Kilo schweren Rollstuhls alleine, aber die Stufe vor dem Bäckerladen ist aussichtslos hoch.

„Wie kommt ihr da hinein?“, fragt sie die ratlos guckenden Schüler. Sie selbst klopfe einfach ans Fenster oder gebe einem vorbeigehenden Kunden einen Zettel mit, auf dem sie um Einlass bittet. In eine Arztpraxis oder eine Gaststätte wage sie sich überhaupt nur, wenn sie die Eingangs- und Aufzugssituation vorher telefonisch erkundet habe. „Und wenn man mal drin ist, kommt man noch lange nicht zur Toilette“, bemerkt sie enttäuscht nach einer Kurzvisite im Bäckerei-Café.

Ohne die Schülerinnen Lisa Marie und Patricja wäre das türkische Lebensmittelgeschäft für sie ein unzugänglicher Ort gewesen. Als die Mädchen sie die Stufen hochwuchten, spricht sie trocken vom „Gottvertrauen“, das ein behinderter Mensch in seine Träger brauche. Eine Rampe habe das Denkmalamt beim Renovieren nicht erlaubt, erklärt Ladeninhaber Ilhan Özdemir, Aber „wenn jemand draußen ruft, dann komme ich und helfe“. Mauro Pittori vom Eis-Café nebenan macht es genauso. „Ich springe raus“, sagt er. Seine Theke ist für einen Rollstuhlfahrer, der bezahlen will, viel zu hoch. Marlene Kurz kann die Hilfsbereitsschaft ihrer Umgebung schon längst am Blickkontakt abschätzen. Leute, die weggucken oder ihre Hände in den Hosentaschen behalten, spreche sie schon gar nicht an. Bei jungen Leuten allerdings habe sie noch nie umsonst gefragt, lobt sie deren selbstverständliche Unterstützung.

Als Beinah-Fiasko erweist sich die Suche nach einer behindertengerechten Toilette in der Ortsmitte. „Pressieren darf‘s einem nicht“, sagt Sigrid Klett, schwer auf ihren Rollator gestützt. Die Toilette sei im Obergeschoss, teilt AOK-Mitarbeiter Steffen Nill bekümmert mit. Auch die Beratung von behinderten Kunden müsse bisher bei jedem Wetter draußen auf dem Gehweg stattfinden. Diese „katastrophale“ Lage ende erst mit dem Umzug der Krankenkasse in das neue Gesundheitszentrum.

Weil im Wachkoma-Zentrum Ceres ausnahmsweise der Aufzug versagt, fällt auch dort die Toilette als behindertengerechte Anlaufstelle aus. Überrascht berichtet Willi Rudolf von einem picobello ausgestatteten Behinderten-WC im Backshop.

Abiturientin Sarah Dietter macht ihre ersten zaghaften Schritte mit dem Blindenstock. Es sei eine tief verunsichernde Erfahrung, bemerkt sie. Hartmut Gerst nimmt seine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Er könne sich blind auf seinen schwarzen Retriever Max verlassen, sagt er. Der Blindenführhund versteht 35 verschiedene Anweisungen. An der Fußgängerampel weiß er genau, welchen Knopf er mit seiner Pfote drücken muss, damit der Autoverkehr anhält. Gerst verspricht sich eine verbesserte Orientierung, wenn im neuen Stadtzentrum mit den Gehwegplatten ein taktiles Leitsystem verlegt wird. Deren Rillen- und Noppenstrukturen seien für Blinde wie Wegweiser zu lesen.

Gemeinsam für eine barrierefreie Stadt

Die kommunalen Behindertenbeauftragten der Landkreise Reutlingen und Tübingen Marc-Oliver Klett und Willi Rudolf haben mit ihrem Aktionsbus gestern in Mössingen und Rottenburg Station gemacht (siehe dazu auch „Rottenburger Post“). Heute sind sie in Münsingen unterwegs. Der Städtetest, ein Projekt der Aktion Mensch, fragt nach der Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr, in der Freizeit, der Verwaltung und beim Wohnen. Die Schülerbeobachtungen in Mössingens Innenstadt werden ausgewertet und an die Stadtverwaltungen weitergegeben, erklärt Projektleiterin Sabine Goetz. Die Aktionstage waren an den Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gekoppelt.

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Erstellt:
10.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 18sec
zuletzt aktualisiert: 10.05.2016, 01:00 Uhr

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