Mit Engelszungen

Niederschwellige Informationspolitik

Es sind schon merkwürdige Auswüchse, die das Internet tagtäglich hervorbringt – besonders nach Vorfällen wie der tödlichen Attacke des 21-jährigen Syrers in Reutlingen am Sonntag. Da fordert einer aus Mainz allen Ernstes in einer Petition an Ministerpräsident Winfried Kretschmann für den Fahrer, der den Messertäter umgefahren hatte, einen Verdienstorden des Landes – obwohl die Polizei immer wieder betont, dass dies ein Unfall war. Gestern hatten trotzdem bereits über 4900 Personen unterschrieben.

28.07.2016

Von Thomas de Marco

Das Polizeipräsidium Reutlingen, das am Sonntag rund 100 Kräfte im Einsatz hatte, kritisiert dabei auch, dass „mehrere Meldungen mit offensichtlich unwahrem Inhalt“ in den sozialen Netzwerken aufgetaucht seien. Die Verbreitung solcher Informationen werde bei Bekanntwerden auf strafrechtliche Relevanz geprüft, gegebenenfalls werde sogar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. „Die Polizei bittet darum, von der bewussten Verbreitung unwahrer Inhalte Abstand zu nehmen“, heißt es in einer Mitteilung.

Dabei muss sich das Reutlinger Präsidium auch selbst Vorwürfe gefallen lassen. Wie konnte es sein, dass zunächst republikweit von einer Machete als Tatwaffe die Rede war, ohne dass die Polizei den Sachverhalt richtigstellte? Auch wenn es am schrecklichen Tod der 45-jährigen Polin nichts mehr ändert, macht es für die gefühlte Bedrohungslage der Bevölkerung schon einen großen Unterschied, ob ein Mensch nach einem Streit zu einem Messer am Arbeitsplatz greift – oder vorsätzlich mit einer Machete herumläuft. Zumal wenige Tage zuvor ein junger Flüchtling Menschen mit einer Axt attackiert und schwer verletzt hatte.

Viele haben sich deshalb gefragt: Warum hat die Polizei keine Pressekonferenz abgehalten? Wann, wenn nicht in so einem Fall, macht es mehr Sinn, eine solche Konferenz einzuberufen? Fragen, mit der auch die Pressestelle des Reutlinger Polizeipräsidiums oft konfrontiert worden ist. „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, um den Vorfall nicht noch stärker zu hypen“, so Björn Reusch zum TAGBLATT. Die Logik der Polizei: Für sie ist es eine Beziehungstat und sollte entsprechend niederschwellig behandelt werden – ohne Konferenz.

Generell verfahre das Präsidium mit Pressekonferenzen ohnehin sehr defensiv. Ausnahmen waren zuletzt etwa die Vorstellung des Kriminalitätsberichts oder der Besuch des früheren Innenminister Reinhold Gall, der in Reutlingen die Polizeireform lobte. „Wir waren aber am Sonntag mit zwei Leuten ständig vor Ort und waren auch immer telefonisch erreichbar“, betont der Chef der Pressestelle. Wobei offenbar nicht wenige Medienvertreter trotzdem alle Mühe hatten, die Polizei zu erreichen. Reusch verweist zudem auf eine quasi Live-Berichterstattung: „Schon anderthalb Stunden nach der Tat konnten wir einen terroristischen Hintergrund ausschließen.“

Was die Machete angeht, räumt der Pressesprecher allerdings einen Lernprozess ein. Zwar sei darunter generell ein langes Messer zu verstehen – aber auf Wortklauberei will sich Reusch nach dem Tötungsdelikt vom Sonntag nicht mehr einlassen. Zumal Machete laut Definition sowohl Werkzeug als auch Waffe sein kann. Die Lehre für die Polizei, sagt Reusch: „In einem solchen Fall werden wir künftig nur noch von Messer sprechen!“

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Erstellt:
28.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 15sec
zuletzt aktualisiert: 28.07.2016, 01:00 Uhr

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