Aggression liegt in der Luft

Schlägerei unter Platanen: Ein Freitagabend auf der Neckarinsel

Die Anwohner klagen über Lärmbelästigung, die Polizei rückt regelmäßig an: Die Neckarinsel verwandelt sich am Wochenende in den Abendstunden zu einem zentralen Sauftreff in Tübingen (wir berichteten). Wir machten uns vor Ort ein Bild.

25.09.2016

Von Fabian Renz

Polizeieinsatz auf der Neckarbrücke noch vor Mitternacht: Fäuste und Flaschen flogen, irgendwer soll ein Messer gezückt haben, Anzeigen: keine.Bild: Renz

Polizeieinsatz auf der Neckarbrücke noch vor Mitternacht: Fäuste und Flaschen flogen, irgendwer soll ein Messer gezückt haben, Anzeigen: keine.Bild: Renz

Tübingen. Es ist 23.15 Uhr, als zwei Polizeiwagen auf der Neckarbrücke halten. In der Platanenallee, am Fuß der Metalltreppen, wo tagsüber die Touristen flanieren, Pärchen auf der Wiese dösen und Hunde an die Bäume pinkeln, stehen rund 25 junge Männer, ein paar gehen aufeinander los, Fäuste und Flaschen fliegen, Glas klirrt. Jemand schreit: „Der hat ein Messer“. Zwei Männer rennen weg, zwei Polizisten hinterher. Es ist Freitagabend, noch nicht mal Mitternacht, und wenn man den Leuten glaubt, die an diesem Abend auf der „Plata“ unterwegs sind, ist es ein Abend wie viele andere.

Eine Stunde zuvor: Freddy sitzt mit drei Freundinnen weiter hinten in der Platanenallee und trinkt Bier aus der Dose. Freddy ist 18, Waldorfschüler, höflich und eloquent. Er breitet bereitwillig seine Typologie der abendlichen Platanenallee-Besucher aus. Im vorderen Bereich, nahe der Neckarbrücke, sind meist „die Studenten“. Die trinken dort am Abend zwei, drei Bier und ziehen dann weiter. Dann kommen „die Schüler“, jung, laut, länger da, aber letztlich harmlos. „Die Kiffer“ sind hinten im Seufzerwäldle und noch harmloser. Und dann sind da noch „die Azzlacks“.

Der Begriff Azzlack, den der Rapper Haftbefehl geprägt hat, wird meist als Synonym für „asozialer Kanake“ verstanden und verwendet. Diese Gruppe, so beschreibt es Freddy, sei für die Schlägereien und die Messerstechereien verantwortlich. Nur sie bleibe bis in die Nacht auf der Neckarinsel.

Auf dem Fundament des einstigen Konzertpavillons sitzen acht junge Männer, die Freddy gemeint haben könnte. Gangster-Rap dringt aus kleinen Boxen, alle rauchen, die meisten haben Migrationshintergrund. Lärm? Schlägereien? „Wenn man die ganze Woche auf dem Bau oder in der Werkstatt arbeitet, muss man am Wochenende Dampf ablassen“, sagt einer. Dann verlieren die Männer schnell das Interesse an einem Gespräch, wenden sich ohne Abschied ab. Später, bei der Schlägerei, werden sie wieder zu sehen sein.

Einen „friedlichen Ort“ stellt man sich anders vor

Simon gehört zur großen Gruppe der minderjährigen Schüler, die in den Abendstunden die „Plata“ bevölkern. „Wo soll man denn sonst hingehen?“, fragt der 17-Jährige. In Clubs und Raucherkneipen kommt er nicht rein, in einen Jugendclub würde er nicht gehen. „Wir wollen ja unter uns sein, einfach mit Freunden abhängen und saufen.“ Und die Schlägereien? „Ja, die gibt’s am Wochenende jeden Abend, aber das ist meistens nur Schauspielerei. Da plustern sich Leute auf, um sich groß zu fühlen.“

Zurück Richtung Neckarbrücke, es ist kurz nach elf. Auf einer Bank sitzt ein knutschendes Pärchen, ein älteres Paar geht mit dem Hund spazieren, eine junge Frau läuft alleine unbehelligt durch die Allee – es ist nicht so, dass man hier Angst um sein Leben haben müsste. Einen „friedlichen Ort“, wie Tübingens Erste Bürgermeisterin Christine Arbogast die Neckarinsel kürzlich genannt hat, stellt man sich aber anders vor. Eine gewisse Aggression liegt die ganze Zeit in der Luft. Große Gruppen schlendern die Allee entlang, beäugen andere, die im Schatten stehen. Kurz danach kommt es zur Schlägerei.

Als sie vorbei ist, schreit einer der Angegriffenen den Polizisten einen bemerkenswerten Satz ins Gesicht: „Das waren Flüchtlinge! Gegen die macht ihr nie was, nur gegen uns, weil wir arabisch aussehen.“ Ein Polizeibeamter lässt sich einer aufgebrachten Zeugin gegenüber zu der Aussage hinreißen: „Die hatten wohl die Hosen voll, die waren doch zu zehnt.“ Und die meisten anderen Platanenallee-Besucher trinken weiter ihr Bier. Alles ganz normal.

Es ist ein Freitagabend im Herzen Tübingens, an dem sich keiner mit Ruhm bekleckert.

Polizei: „Verletzter sagte, er sei auf eine Flasche gefallen.“

Wer am Freitagabend auf der Platanenallee wen angegriffen hat und warum, das kann auch die Polizei nicht sagen. „Wir wissen es auch nicht genau“, sagte am Sonntag Michael Lainer vom Polizeipräsidium Reutlingen. „Die Beamten fanden eine Massenansammlung vor, zwei Personen sind geflüchtet, wurden aber eingeholt.“ Einer der beiden Männer, ein syrischer Asylbewerber, hatte eine Schnittwunde an der Hand. „Er sagte, er sei auf eine Flasche gefallen“, so Lainer. Den vermeintlichen Messerangreifer konnte niemand beschreiben. „Da können wir dann auch nichts machen“, so Lainer. Vergleichbare „Reibereien“ gebe es immer wieder, nicht nur in Tübingen, sondern überall, „wo sich große Gruppen treffen“.

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Erstellt:
25.09.2016, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 08sec
zuletzt aktualisiert: 25.09.2016, 21:00 Uhr

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Altstadtbewohner 26.09.201609:01 Uhr

Vielen Dank für die Schilderung eines Problems unter dem die Anwohner seit mehreren Jahren leiden müssen … und zwar nicht nur an Wochenenden und in heißen Sommernächten. Ob die Stadtverwaltung auch nach diesem Artikel noch glaubt, mit einer „pfiffigen Kampagne“ einer „Kreativagentur“ dem Problem begegnen zu können? Oder erkennen Herr Palmer, Frau Arbogast und der Gemeinderat endlich, dass hier andere Maßnahmen notwendig sind? Ich befürchte tatsächlich es wird sich erst etwas ändern, wenn die Immobilienbesitzer entlang der Platanenallee wegen des Wertverlusts ihrer Häuser aktiv werden.

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