Eine Extraportion Geduld

18 Schüler, 15 Nationalitäten: Zu Gast in einer Vorbereitungsklasse für Flüchtlinge

Zuletzt registrierten die Bundesländer jeweils durchschnittlich 10 000 Flüchtlinge pro Tag. Viele von ihnen sind Kinder und Jugendliche, die Deutsch lernen wollen – ein Teil davon kommt ohne elterliche Begleitung. Sie hoffen auf eine berufliche Zukunft, doch ohne Sprachkenntnisse gibt es keinen Schulabschluss. Ein Tag in einer Vorbereitungsklasse zeigt: Es geht nur Schritt für Schritt.

25.11.2015

Von Lorenzo Zimmer

Michael Stadelmann (Mitte) im Einsatz: Während der Gruppenarbeit lauscht er den Gesprächen seiner Schüler und korrigiert, wo es nötig ist.Bild: Metz

Michael Stadelmann (Mitte) im Einsatz: Während der Gruppenarbeit lauscht er den Gesprächen seiner Schüler und korrigiert, wo es nötig ist.Bild: Metz

Es ist 7.30 Uhr – die Schüler der Vorbereitungs-Klasse stehen im Gang der Mathilde-Weber-Schule. So recht passen sie nicht ins Schulbild – manche von ihnen sind schon volljährig. Im Flur kommunizieren sie in ihren Muttersprachen: Arabisch, Serbisch, Albanisch, Französisch sind sofort zu hören. An diesem Morgen kommen sie mit Bus und Bahn aus Ofterdingen, Dettenhausen, Mössingen. Aber sie alle haben einen schweren und sehr viel längeren Weg zurückgelegt: Aus Pakistan, Serbien, Albanien, Gambia, dem Sudan und Syrien kamen sie zu Fuß, mit dem Boot, dem Fernzug, dem Flugzeug oder dem Auto. Im Kofferraum, im Abteil, auf Ladeflächen und an die Reling gepresst.

Der Gang, in dem sie jetzt stehen, führt zum Klassenzimmer 001. „Und hoffentlich in eine gute Zukunft“, sagt Baran. Wie seine Klassenkameraden möchte der 16-jährige Türke nicht mit seinem Nachnamen in der Zeitung stehen. Für Baran und seine Mitschüler ist Raum 001 ein geschützter Ort der Hoffnung, des Dazu- und Kennenlernens. Aber es ist auch ein Raum des Ungewohnten, der Unterschiede, der Fremde.

Dort ist Michael Stadelmann ihr Deutschlehrer, ihr Kulturcoach, ihre Bezugs- und Vertrauensperson. In der orientierenden Berufsvorbereitungsklasse (Vabo) sollen die Schüler sprachlich so fit gemacht werden, dass sie in einem weiteren Jahr auf den Hauptschulabschluss pauken können. Für manche von ihnen ist es die erste Schule, die sie besuchen – von Lehrplänen und Prüfungsleistungen wissen sie wenig.

Wie fast jeden Morgen beginnt der 41-jährige Stadelmann den Unterricht mit etwas Smalltalk. „Was habt ihr gestern nach der Schule gemacht?“, fragt er. Seine Schüler haben als Hausaufgabe in ein paar Sätzen aufgeschrieben, wie sie gestern nach der Schule ihre Zeit verbracht haben. Die Antworten kommen schnell: Die Jugendlichen haben Fußball gespielt, Musik gehört, Freunde getroffen. Sie haben den Abend in ihren Wohngruppen oder mit ihren Familien verbracht. Sie waren im Fitness-Studio oder in der Stadt unterwegs.

Eigentlich gehen 18 Flüchtlinge im Alter von 15 bis 18 in Stadelmanns Klasse – doch schon im Vorfeld dieses Tages haben sich dem Lehrer manche anvertraut: Wenn ein Mann von der Zeitung und ein Fotograf kommen, erscheinen sie lieber nicht. Zwei Schüler haben sich auf diese Weise abgemeldet – vier weitere fehlen an diesem Tag. Bei den zwölf Anwesenden räumte Stadelmann die Sorgen aus: „Ihr könnt euch verhalten wie immer, die Männer von der Presse wollen euch nichts Böses“, hat er ihnen gesagt.

Stadelmann wird sich mit seinen Schülern jetzt für 45 Minuten um die Tücken der deutschen Sprache kümmern. Warum es „gelesen“ aber „gehabt“ heißt, und nicht „gelest“ und „gehaben“. Oder eher, dass es so heißt. Denn um das Warum geht es weniger. „Für Metasprache habe ich kaum Zeit“, sagt der Lehrer mit den schulterlangen Haaren und der warmen, sonoren Stimme. „Ein paar Schüler sind so weit, dass sie über solche Modelle an die Sprache herangehen“, sagt er. „Für sie versuche ich, Theorie einzustreuen.“ Für die anderen jedoch – und das sind die meisten – geht es ums Zurechtfinden in einer völlig fremden Welt: Busfahrpläne lesen, zum Arzt gehen, Amtsanträge und Mietverträge verstehen. Ganz ohne theoretische Modelle geht es aber nicht.

An allen Wänden des Klassenzimmers 001 hängen Plakate, die die Schüler gestaltet haben. Partizipformen, Ausbildungsberufe, Artikel. Das Wand-Portfolio ist so bunt gemischt wie die Herkunftsländer im Klassenbuch. Als Stadelmanns Blick auf das Artikel-Poster fällt, schaut er kurz verdutzt: „Was ist das denn?“ „Artikel!“ ruft die Klasse. „Und brauchen wir die?“ „Ja!“ Da muss Stadelmann lachen. Ja wofür braucht man die überhaupt? „Genau, die brauchen wir wirklich. Die helfen uns später bei den Adjektiven. Und bei anderen Sachen.“ Das Poster haben die Schüler am Vortag mit Stadelmanns Vertretung angefertigt – ein Exkurs, weil die Schüler die kleinen geschlechtsbestimmenden Wörter bisher eher zufällig einsetzen.

Um kurz vor neun übernimmt Barabara Saliger die Klasse für eine Doppelstunde Musikunterricht. Während sie Songtext und Noten eines Radiohits von Andreas Bourani verteilt, bereitet sich Stadelmann im Lehrerzimmer auf ein Gespräch mit einer Schülerin vor. Wegen häufiger Fehlzeiten hat er sie mit ihren Eltern in die Schule gebeten. Doch auch heute kommt sie nicht – ihr Lehrer wartet vergebens. Schließlich nutzt er die Zeit, um mit der Schulsozialarbeiterin Johanna Brendel die weiteren Schritte zu besprechen.

Adrijan aus Serbien trommelt derweil den Rhythmus im Musiksaal. Beim Refrain ist das Team 001 – wie Stadelmann seine Schützlinge nennt – schon textsicher: „Mein Herz schlägt schneller als deins, sie schlagen nicht mehr wie eins. Wir leuchten heller allein, vielleicht muss es so sein.“ Barabara Saliger begleitet an der Gitarre und kurz flammt eine Geborgenheit und ein Wir-Gefühl im Raum auf, das so wohl nur Musik erzeugen kann.

Zum Musik- und Deutschunterricht kommen für das Team 001 vier Stunden Mathematik in der Woche. Dafür teilt Stadelmann die Klasse in zwei Gruppen. Schüler die schon geübter im Umgang mit Zahlen sind, haben zusammen Mathe – dann ist der Rest der Klasse im Deutschunterricht und umgekehrt. Die Mathe-Kollegin unterrichtet ehrenamtlich: „Sie hat mir gesagt, dass sie sich für Flüchtlinge engagieren will“, sagt Stadelmann. Dann sei man zusammen auf die Idee gekommen, für die Vabo-Klasse ein paar Stunden Mathematikunterricht einzurichten. Auf dem Lehrplan des Regierungspräsidiums für solche Orientierungsklassen findet sich vieles, was mit Stadelmanns Alltag wenig zu tun hat. Von Ethikunterricht ist dort die Rede, von „Projekt- und Methodenkompetenz“.

Als Stadelmann seine Schüler nach dem Musikunterricht begrüßt, hat er Sätze aus den Hausaufgaben an die Tafel geschrieben. Die Stimmung ist sichtlich gelockert – der Musikunterricht scheint die Müdigkeit weggedrückt und die Schüler ins Jetzt geholt zu haben. Gut für das, was Stadelmann vorhat: „Wir korrigieren jetzt gemeinsam.“ Dritzon und Sylbije unterhalten sich schon über ihre Hausaufgaben – auf Albanisch. Beide stammen aus dem Kosovo. Sie helfen sich gegenseitig, wo es geht, korrigieren einander und können über eigene Fehler schmunzeln. Überhaupt: Ganz vieles läuft im Raum 001 im Kollektiv. Stadelmann versucht, jeden mitzunehmen, ohne dabei an dem, der korrigiert wird, ein Exempel zu statuieren. „Gestern bin ich nach Stuttgart gefahrt“, steht mit weißer Kreide an der Tafel. Ein Satz aus den Hausaufgaben. „Gefahren“ wirft Adeel ein, während die letzte Stunde des Tages ihrem Ende entgegenplätschert.

Adeel kommt aus Pakistan – neben ihm sitzt Yuvraj aus Indien. Immer wieder murmeln sie miteinander auf Urdu – eine sehr verbreitete Sprache, die im gesamten indisch-pakistanischen Grenzgebiet gesprochen wird. „Es ist doch verrückt. Da sitzen zwei Vertreter beider Seiten eines Konflikts eine Viertel Erdumdrehung weiter zusammen auf der Schulbank und helfen sich beim Deutschlernen“, sagt Stadelmann über die beiden.

Als es klingelt, ist der Unterricht für heute vorbei. Für Stadelmann der Moment, um etwas weiter in die Zukunft zu blicken: „Mir wird zwar von Kollegen, Schülern, Eltern und Sozialpädagogen immer wieder gesagt, dass ich gute Arbeit mache. Aber eine Zukunftsperspektive habe ich in diesem Job nicht.“ Der Lehrer hat zuvor an Hochschule und Volkshochschulen Sprachkurse gegeben und für das Deputat in der Vabo-Klasse Honorarverträge gekündigt. Ein zweites Staatsexamen hat er jedoch nicht. Im Amtsjargon ist er damit ein Nichterfüller, er hat nicht die notwendige Qualifaktion, um regulärer Lehrer zu sein.

Dass seine Schüler Vertrauen zu ihm gefunden haben und er seine Arbeit liebt, tut für die Bürokratie dabei wenig zur Sache. Stadelmann hat nur einen Vertrag bis Mitte Januar. „Der wird dann bis zum Schuljahresende verlängert, aber danach bin ich wieder arbeitslos“, sagt er. Nicht die besten Zukunftsaussichten. „Deshalb habe ich mich anderweitig beworben, obwohl mir die Arbeit so großen Spaß macht“, sagt Stadelmann in der Mittagspause.

Und am selben Nachmittag bekommt er einen Anruf von der Stadtverwaltung Reutlingen: Er erhält ab Januar eine unbefristete Stelle als sozialpädagogische Fachkraft zur Beratung und Betreuung von Flüchtlingen. Für ihn sind das gute Neuigkeiten – auch wenn er sie nicht ohne Wehmut aufnimmt. Denn seine Schüler – da ist sich Stadelmann schon jetzt sicher – wird er vermissen.