Gespräch mit Zeitzeugen im DAI

1968 in Tübingen: Das Gefühl der Freiheit

Die Stadt war ambivalent – gleichzeitig aufgeschlossen und abwehrend, sagten Zeitzeugen bei einem Podiumsgespräch im Deutsch-Amerikanischen-Institut.

16.12.2016

Von Dorothee Hermann

Haben sie etwas mitgenommen von 68? Burkhardt Stein (von links), Beate Jung, Autorin Gabriele Huber, Ulrich Janßen (Moderation), Anton Brenner und Inge Jens im DAI. Bild: Sommer

Haben sie etwas mitgenommen von 68? Burkhardt Stein (von links), Beate Jung, Autorin Gabriele Huber, Ulrich Janßen (Moderation), Anton Brenner und Inge Jens im DAI. Bild: Sommer

Die mitreißende Aufbruchsstimmung von 1968 ist in Tübingen offenbar noch gut in Erinnerung: 120 Leute kamen zum Gespräch der Stadtforscherin Gabriele Huber mit vier Zeitzeugen am Donnerstagabend im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI). Die frühere Kreisjugendpflegerin und kommunale Suchtberaterin präsentiert in ihrem neuen Buch 15 Interviews mit Zeitzeugen.

Als junge Studentin erlebte Huber in Tübingen, das sie als aufgeschlossen empfand, „ein Gefühl der Neuorientierung“. Es war ganz anders als in ihrer oberschwäbischen Heimatstadt Riedlingen, die zwar schön, aber damals „verkrustet-wertkonservativ“ gewesen sei. Als Mitgründerin des dortigen Jugendzentrums wollte Huber, geboren 1951, „Verkrustungen aufbrechen, vor allem auch für Mädchen und Frauen“. In Tübingen hatte sie endlich das Gefühl, „es geht vorwärts“.

Aus dem Abstand von fast 50 Jahren fragt sie nun: „Was ist aus den Leuten geworden? Haben sie etwas mitgenommen in die heutige Zeit?“ Etliche der vormals Politisierten seien zu Geschäftsleuten geworden. „Manche sind ab gestürzt“,   auch  wegen Drogen. Der stellvertretende TAGBLATT-Chefredakteur und Moderator des Abends Ulrich Janßen hat die Achtundsechziger erst im Nachhinein beim Trampen schätzen gelernt: „Sie waren diejenigen, die immer angehalten haben.“

Die langjährige Tübinger AL-Stadträtin Beate Jung kam im Wintersemester 1967 an die hiesige Uni, um Anglistik, Romanistik und Politikwissenschaft zu studieren. Sie erinnert sich noch genau an „das Gefühl der Freiheit“, das sie damals in Tübingen verspürte – besonders im Kontrast zu ihrem strengen Elternhaus in Bottrop im Ruhrgebiet.

„Im Sommer 1967 wurde Benno Ohnesorg in Berlin erschossen, bei einer Demo gegen den Schah“, berichtete Jung. Auch in Tübingen wollte man das nicht hinnehmen. Sie protestierte ebenfalls gegen den Schah und auch gegen den Vietnam-Krieg. „Die Demos führten dann immer vor das Amerika-Haus (das heutige DAI), weil man die Vereinigten Staaten damals als Aggressor wahrnahm.“

Die damaligen Tübinger waren von solchen Protestformen nicht angetan, erinnerte sich Jung: „Wir wurden beschimpft als Gammler. Wir sollten was schaffen.“ Bei einer Demo durch die Marktgasse öffnete sich in einem der oberen Stockwerke des Weinhauses Beck ein Fenster, und ein Eimer Wasser
ergoss sich über die Demonstranten. Außerhalb der Uni wurde
Jung Mitgründerin des Tübinger Frauenzentrums und später des
Sozialforums.

Für den ehemaligen Tübinger Linke-Stadtrat Anton Brenner gab es den zum geflügelten Wort gewordenen „Marsch durch die Institutionen“ nicht, den die 68er anstrebten, um autoritäre Einrichtungen von innen heraus zu verändern. Als Mitglied des MSB Spartakus (MSB stand für Marxistischer Studentenbund) bekam er nach dem sogenannten Radikalen-Erlass Berufsverbot als Lehrer. Aufgrund eines Formfehlers von amtlicher Seite gelang es ihm noch, das Referendariat zu machen. Danach eröffnete er einen Copyshop mit Druckerei. „Ich habe mir gedacht, ich
bin nicht auf einen bestimmten
Beruf fixiert.“

Trotzdem kämpfte Brenner weiter gegen das Berufsverbot. So lange, bis er sich per Gericht zurück in den Schuldienst geklagt hatte. Von 2000 bis zum Ruhestand 2013 arbeitete Brenner als Deutsch- und Religionslehrer.

In Bezug auf die Kapitalismus-Kritik gibt es Zeiten, in denen man mehr erreichen kann, und Zeiten des Rückschritts, sagte er auf die Frage von Moderator Janßen, warum es mit der 1968 geforderten Abschaffung des Kapitalismus nicht geklappt habe. „Diejenigen, die Verlierer sind, müssen wieder in den Mittelpunkt rücken“, betonte Brenner. Er versteht sich als „klassischen alten Linken“, während die 68er eher von der Neuen Linken dominiert gewesen seien, die sich für Minderheitenrechte und Umweltpolitik einsetzten.

Für die Schriftstellerin Inge Jens, die ‚68 vor allem als Ehefrau des Rhetorikers Walter Jens erlebte, muss die Gegenwart eigene Antworten finden: „Wenn wir uns nicht auf eine wirklich soziale Politik einigen können, sollten wir es vielleicht lassen mit der Politik.“

In seiner Stuttgarter Wohnung erschossen

Der frühere Tübinger Amtsrichter Burkhardt Stein sah die 68er eher von außen: „Die Leute hatten lange Haare, lockere Gewänder, liefen barfuß herum“, sagt er im Buch von Gabriele Huber. Während seiner Zeit als Haftrichter in Stuttgart-Stammheim erschossen Polizisten am 25. Juni 1972 in Stuttgart den schottischen Geschäftsmann Ian MacLeod bei einer Kontrolle seiner Wohnung. „Die haben den Schotten erpresst, dass sie die Wohnung benutzen konnten“, sagte er am Donnerstagabend im DAI. „Die“ waren laut Stein RAF-Mitglieder.

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Erstellt:
16.12.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 16.12.2016, 01:00 Uhr

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