Die Pistole vor Augen

22-Jähriger soll in der Uniklinik auf den Kopf einer Polizistin gezielt haben

Das Tübinger Landgericht beschäftigt weiter der Fall eines 22-jährigen Öschingers. Im vergangenen November soll er in der Uniklinik einem Polizisten die Waffe entrissen und auf ihn und dessen Kollegin geschossen haben. Gestern waren beide Beamten als Zeugen geladen.

21.04.2016

Von Kathrin Löffler

Symbolbild: liveostockimages - Fotolia

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Tübingen/Öschingen. „Ich habe direkt in den Pistolenlauf geschaut“, sagte die Polizeihauptmeisterin, „ich dachte, das war‘s jetzt“. Emotional sichtlich bewegt schilderte die Nebenklägerin im gestrigen Prozess, wie sich die Ereignisse vom 4. November 2015 aus ihrer Sicht zugetragen haben.

Demnach begleitete sie mit ihrem Kollegen einen Krankentransport. Dabei wurde ein 22-jähriger Öschinger wegen Nierenversagens in die Medizinische Klinik verlegt. Vorher war er in der Nervenklinik, weil er sich am Vortag unerlaubt Zutritt zum Öschinger Haus seiner Eltern verschafft, sich massiv gegen hinzugerufene Polizisten gewehrt, sie mit Steinen beworfen und Wahnvorstellungen gehabt haben soll.

Nach Ankunft in der Medizinischen Klinik am 4. November habe sie die Ärztin mehrfach darauf hingewiesen, dass der Patient fixiert werden müsse, sagte die Polizistin. Aber erst nach 20 Minuten habe sich jemand veranlasst gefühlt, ihm einen Gurt anzulegen – allerdings lediglich am Bauch.

Das Gericht hörte gestern auch eben jene Ärztin der Medizinischen Klinik an, die den 22-Jährigen aus der Nervenklinik aufgenommen hatte. Ob er nur am Bauch oder auch an Händen und Füßen festgebunden werden müsse, sei nicht diskutiert worden, sagte sie. Eine Pflegekraft habe mehrmals gefragt, ob die Polizisten gehen dürften. „Ich habe gesagt, es wäre nett, wenn die Polizei bleiben könnte, bis er fixiert ist“, so die Ärztin. Sie gab aber ebenso an, keine Informationen über die Vorgeschichte des Patienten bekommen zu haben. Sie wusste einzig vom Verdacht auf Nierenversagen und Drogenmissbrauch. Von seinem vermeintlichen Verfolgungswahn und seinem aggressiv-verwirrten Verhalten am Vortag war ihr nichts bekannt. „Mit dieser Information wäre eine Aufnahme in die Medizinische Klinik sicher diskutiert worden“, sagte die Zeugin.

Nach der Verlegung auf die Intensivstation verließen die beiden Polizisten das Krankenhaus. Wenig später wurden sie erneut dorthin gerufen. Laut der Ärztin legte sich eine halbe Stunde nach seiner Ankunft bei dem Öschinger Patienten „ein Schalter um“. Er habe getobt, sich aus der Fixierung gelöst, „stand plötzlich ohne Gurt da“. Normalerweise, sagte die Medizinerin, sollte der Mechanismus nur mit einem Magnetschlüssel zu öffnen sein. Nach Angaben auch eines weiteren Arztes riss sich der Mann Krankenhausleibchen und Katheter vom Körper und rannte nackt in ein benachbartes Wohnheim. Von dort wollten ihn die inzwischen wieder eingetroffenen Polizisten zurückbringen. Zunächst habe der unbekleidete Mann dort einen friedlichen Eindruck gemacht, so die Polizistin. Als sie ihm Handschellen anlegen wollte, sei die Situation eskaliert.

Nach Aussagen der beiden Polizisten ging es so weiter: Der kräftige junge Mann wehrte sich. Ein Gerangel entstand. Dabei bekam der Beschuldigte die Dienstpistole des körperlich unterlegenen Polizisten zu fassen. Wie, wisse letzterer nicht mehr genau, wie er sagte. Er erinnerte sich aber: „Als ich wieder vom Boden hochkam, stand er mit der Waffe schon da und hat auf den Kopf meiner Kollegin gezielt.“ Der Beschuldigte drückte ab. Die Polizistin konnte sich wegducken. Das Projektil fand sie erst eine Woche später in ihrem Reservemagazin, das sie zur Tatzeit in Hüfthöhe trug.

Die Abweichung zwischen Einschussloch und der vermeintlichen Zielrichtung auf ihren Kopf erklärte ihr Kollege mit dem Rückschlag beim Schusswaffengebrauch. Der Polizist sagte aus, dass zwischen dem Beschuldigten und seiner Kollegin höchstens ein Meter Abstand gewesen sei. Ungeübte Schützen könnten die Waffe beim Abfeuern auch in so einer geringen Entfernung noch verreißen. Möglicherweise habe sie im Wegdrehen auch den Schussarm des Mannes nach unten gedrückt, meinte die Polizeihauptmeisterin. Im Versuch, den jungen Mann zu überwältigen, löste sich ein zweiter Schuss. Er streifte den Polizisten am Oberschenkel. Dann kamen weitere Einsatzkräfte zur Unterstützung.

Die Staatsanwaltschaft deutet das Verhalten des Öschingers unter anderem als versuchten Mord. Das weitere Verfahren soll klären, ob er psychisch krank und unzurechnungsfähig ist.

Vorsitz: Richter Ulrich Polachowski; Beisitzer: Christoph Sandberger, Johannes Munding; Schöffen: Klaus Bucher, Ralf Glaunsinger; Staatsanwalt: Ingo Schumann; Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs; Vertreter der Nebenklage: Benjamin Ogrzewalla; Gutachter: Peter Winckler

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Erstellt:
21.04.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 00sec
zuletzt aktualisiert: 21.04.2016, 01:00 Uhr

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