Geschichte

Ahnenforschung für ein ganzes Dorf

„Kneiple“-Wirtin Anna Jung hat sich zu Herzen genommen, was ihr der Großvater einst geraten hat: „Du musch die Leut kennen als Wirt.“

22.08.2018

Von Kathrin Kammerer

„Wo wohnten unsere Ahldorfer Vorfahren?“: Anna Jung zeigt den Ordner, in dem die Grundstücke und ihre Besitzer erfasst sind. Bilder: Kuball

„Wo wohnten unsere Ahldorfer Vorfahren?“: Anna Jung zeigt den Ordner, in dem die Grundstücke und ihre Besitzer erfasst sind. Bilder: Kuball

Auf Anna Jungs Bühne liegen haufenweise Schätze. Kein Gold, kein Silber, auch keine Diamanten. Nein, dort ist vielmehr die jüngere Geschichte von ganz Ahldorf aufgestapelt. Fein säuberlich dokumentiert, geordnet, beschriftet und abgeheftet in dutzenden Ordnern finden sich Stammbäume, Grundstückskarten, Schuldenregister und Leichenlisten aus Ahldorf. Im Februar 2019 wird Anna Jung 90 Jahre alt. Ihrer Rührigkeit, ihren Erinnerungen und ihrem Verstand hat das Alter keinen Abbruch getan.

Anna Jung führt das „Kneiple“ in der dritten Generation. „I ka’ mindestens 20 Ahldorfer Haushalte auswendig“, sagt die kleine Frau mit dem aufmerksamen Blick. Und damit meint sie nicht nur die aktuellen Familien-Mitglieder. Damit meint sie vielmehr Stammbäume, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. „Des isch wie a Krankheit“, sagt die 89-Jährige über ihr Hobby. „Dô dürfet Sie mich eigentlich net frôga, sonst hör ich nemme auf.“

„Des isch wie a Krankheit“

Schuld an dieser Krankheit war ihr Großvater Josef. Dieser kaufte das Haus in der Nordstetter Straße im Jahr 1891. Das „Kneiple“ eröffnete er dort 15 Jahre später. „Mein Großvater hat immer gesagt: Du musch die Leut alle kennen als Wirt“, erinnert sich Anna Jung. Also lernte das junge Mädchen emsig vom Großvater: Welche Sippe von welcher abstammt, wer mit wem verheiratet war, wer wohin zog, wer welchen Beruf hatte. Das schier unerschöpfliche Wissen ergänzte später auch ihr Vater Paul, sagt die alte Dame. Der war nämlich ähnlich geschichtsbegeistert.

1957, mit 29 Jahren, heiratete sie schließlich den Ahldorfer Alfred Jung. Dieser war Planungsingenieur beim Tübinger Himmelwerk und hatte ein unglaubliches Geschick in den Fingern, sagt Anna Jung. In den 1970er-Jahren begann er damit, historische Bauten und Dorfansichten von Ahldorf zu malen. Ein paar davon hängen noch heute im „Kneiple“. Außerdem hat er 464 Gemarkungs-Grenzsteine von fünf Gemeinden erfasst und gezeichnet.

Sie redete, er schrieb

Anna Jungs Herz schlug weiter für die Familiengeschichten Ahldorfs. Gemeinsam mit ihrem Mann schrieb sie geordnet nieder, was ihr Vater und ihr Großvater zuvor gesammelt hatten. „I han’s g’wusst und mein Mann hôt’s g’schrieben“, sagt sie und legt den ersten Ordner auf den Tisch. Er ist beschriftet mit „Familien-Geschichte A – F“: von Brenner und Burz über Dettling und Decker bis hin zu Fischer, Anna Jungs Mädchennamen. Mit einer wunderbar klaren und leserlichen Handschrift hat Alfred Jung auf hunderten Seiten die Stammbäume all dieser Familien verewigt. Auf DIN-A3-Seiten, die manchmal gar zu kurz waren, beispielsweise für die 17 Kinder des Klemens Burz.

Bis zu neun Generationen einer Familie hat er auf so einer Seite untergebracht. Das sind nicht weniger als 300 Jahre Familiengeschichte. Hier finden sich Kriegsschicksale („verschollen“, „verletzt“, „gefallen“), Umzüge in die nahe und ferne Umgebung, Familienstände („ledig“, „verheiratet“), Berufe, Kinder.

Viele Männer waren mehrmals verheiratet, viele Frauen starben damals bei der Geburt des Kindes. Auch die Männer wurden oft nur 40 oder 50 Jahre alt. In Rottenburg stöberten Anna und Alfred Jung in alten Aufzeichnungen der Diözese. „So a Ordnung wie da isch nirgendwo“, erinnert sich die Wirtin. Nichtmal reden hätte man dürfen. Auch auf Rathäusern durften die beiden forschen und kopieren.

Fein säuberlich niedergeschrieben: der Fischer-Stammbaum.

Fein säuberlich niedergeschrieben: der Fischer-Stammbaum.

Leichenregister in Sütterlin

Aber es sind nicht nur Stammbäume, die Anna Jung auf ihrer Bühne hütet. „I hol’ Ihnen nochmal was“, sagt sie, wuselt davon und schleppt wenige Minuten später das Ahldorfer Leichenregister von 1879 bis 1911 an. Ein mehrere hundert Seiten dickes Buch: Seite für Seite haben sie und ihr Mann damals im Rathaus kopiert. Die Einträge in den Tabellen sind in Sütterlin-Schrift verfasst. Ein paar Mal muss Anna Jung die Augen zusammenkneifen, aber fast alles entziffert sie auf Anhieb.

In der ersten Spalte steht der Todeszeitpunkt, in der zweiten Spalte der Name des Verstorbenen. Leopold Neff, „Sohn des Schullehrer Neff“ beispielsweise, wurde nur acht Tage alt. „Gichter“ steht in der dritten Spalte als Todesursache. Die meistgenannte Todesursache bei Kindern. Wer älter wurde, starb an Schlaganfall, Wassersucht, Lungenentzündung. Oder irgendwann an Altersschwäche. Älter als 75 Jahre wurde kaum ein Ahldorfer Ende des 19. Jahrhunderts.

Auch die Todesfälle des 20. Jahrhunderts haben die Jungs dokumentiert. Ausgeschnittene Todesanzeigen, Tabellen, sogar Friedhofslisten finden sich in einem Ordner. Die letzte Todesanzeige ist von 2008. Dann ist Alfred Jung selbst gestorben.

Aber es geht in der Jung’schen Sammlung nicht nur um den Tod. Unter Geschehnisse beispielsweise hat Alfred Jung fein säuberlich notiert, was sich politisch in Ahldorf und Horb in den 1980ern ereignete: Beispielsweise dass die CDU bei der Bundestagswahl 1987 bundesweit 44,3 Prozent erreichte und in Ahldorf 56,3 Prozent. Oder dass am 4. August 1984 Amalie Seyfried gestorben war. „Damit ist in Ahldorf ein altes Geschlecht ausgestorben“, notierte er daneben. Oder dass die Friedhofshalle 1984 einen neuen Anstrich erhielt, eine „Eigenleistung des Ortschaftsrats“.

Unerschöpfliches Wissen

Wie viel Zeit sie und ihr Mann in die Forschungen und Aufzeichnungen gesteckt haben? Schulterzucken: „Awa, des kann i nemme sagen.“ Sehr viel Zeit auf jeden Fall, und noch viel mehr Herzblut. „Mein Mann hat mal gesagt: Wenn du bloß alles so dätsch, wie des“, erinnert sie sich. Den unermesslichen Wert, der in ihrem Ahldorf-Sammelsurium steckt, kommentiert sie – typisch Anna Jung – mit einem trockenen Lachen und einem Schulterzucken: „I han nô viel mehr davon, oben. Wenn sie nô weiter frôget, dann hör i wirklich nemme auf mit schwätza.“

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Erstellt:
22.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 46sec
zuletzt aktualisiert: 22.08.2018, 01:00 Uhr

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