Gesundheit

„Alle Dinge erscheinen als existenziell notwendig“

Als Messie-Therapeutin ist Veronika Schröter bundesweit eine gefragte Expertin. Heute Abend spricht die 57-Jährige in der VHS Horb – und gab der SÜDWEST PRESSE vorab im Interview Einblicke in ein komplexes Krankheitsbild.

20.02.2019

Von Maik Wilke

Kaum ein Zentimeter freier Boden, dafür Bücher-Berge und Papierstapel: Ein Beispiel für einen Messie-Haushalt. Symbolbild: Anne Faden

Kaum ein Zentimeter freier Boden, dafür Bücher-Berge und Papierstapel: Ein Beispiel für einen Messie-Haushalt. Symbolbild: Anne Faden

SÜDWEST PRESSE: Frau Schröter, mein Kollege im gleichen Bürozimmer sammelt alte Zeitungen, die Ausgaben sind teilweise schon drei Jahre alt. Gilt der Mann als Messie?

Veronika Schröter: Das kommt ganz darauf an, ob er, wenn er darum gebeten wird, loslassen und aussortieren kann. Oder ob er merkt, dass ihm das schwer fällt.

Bisher haben mehrere Hinweise nichts gebracht.

Dann scheint da tatsächlich etwas im Argen zu liegen. Die Störung, die bei Messies zu diesem Sammelverhalten führt, fängt damit an, dass die Betroffenen nicht mehr unterscheiden können, welche Dinge wichtig oder unwichtig sind. Für sie erscheinen alle Gegenstände als existenziell notwendig.

Aber der Mann ist durchaus aufgeräumt und sortiert. Bei Messies hat man dagegen doch oft ein chaotisches, unsauberes Verhalten im Kopf?

Dieses Bild stimmt allerdings überhaupt nicht. Es ist erschreckend, was manche Fernsehsender mit bestimmten Formaten auszudrücken versuchen: Sie zeigen nicht das, was der Begriff des Messies wirklich meint und das führt dazu, dass dieses Krankheitsbild häufig missverstanden wird.

Inwiefern wird es falsch verstanden?

Viele Menschen glauben, dass alle Messies an einem Vermüllungssyndrom leiden. Dabei birgt das Messie-Syndrom drei Ausprägungsstufen. Die erste Stufe ist die Wert-Beimessungsstörung, bei der wie erwähnt Betroffene nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden können. Die zweite Stufe ist dann das Vermüllungssyndrom und die dritte das Verwahrlosungssyndrom, bei dem sich die Störung beispielsweise auch auf die Hygiene des Menschen selbst auswirkt.

Was können Außenstehende tun, die feststellen, dass sich Angehörige oder Freunde isolieren und zurückziehen? Beispielsweise niemanden mehr in die Wohnung lassen?

Diese Menschen, die beginnen sich Sorgen zu machen, sollten sich auch beraten und unterstützen lassen. Auch sie sollen und müssen gehört werden.

Wie merke ich selbst, ob ich an einer Messie-Thematik leide oder aufgrund von Überforderung in eine Unordnung geraten bin?

Ernsthafte Messie-Thematik ist gekennzeichnet durch längerfristiges Aufschieben von Aussortieren und Stauen in Wohnraum. Bei unordentlichen Menschen ist die Unordnung oft geklärt, wenn man mit Hilfe von außen richtig aufräumt. Bei einer Messie-Thematik ist das keine Lösung des Problems. Die angestaute Energie und frühe Traumatisierungen sind als Auslöser nicht mit Aufräumen zu lösen, weil Messies sich ja selbst gerne befreien möchten, es aber schlicht nicht schaffen.

Der markante Unterschied zwischen einem Sammler und einem Messie ist also das Loslassen?

Richtig. Ein Messie spürt für sich, dass er die gehorteten Dinge so sehr braucht, als würde sein Leben davon abhängen. Er bildet eine tiefe emotionale Bindung, die Dinge geben ihm Schutz und Sicherheit. Zudem sind sie Identitätsprägend. Der Messie denkt: ,Diese Gegenstände zeichnen mich aus, das bin ich.’

Gibt es Personengruppen, sei es aus beruflichen Branchen oder Gesellschaftsschichten, die besonders häufig vom Messie-Syndrom betroffen sind?

Die gibt es, Menschen aus der Mittel- und Oberschicht. Sie haben gelernt, so in der Außenwelt zu funktionieren, dass sie teilweise schon überangepasst sind.

Können Sie das genauer erklären?

In den Familien herrscht zuhause bereits im frühkindlichen Alter viel Druck und Zwang. Es wird sehr konkret vorgegeben, wie man sich zu verhalten halt. Die gesellschaftliche Anpassung ist dabei in einem kompensatorischen Maße übertrieben, dass den betroffenen Personen zuhause die Kraft ausgeht. Sie haben in der Außenwelt keinen Raum, in der sie eine eigene Identität entwickeln können.

Sie sind bundesweit die einzige auf das Syndrom spezialisierte Messie-Therapeutin. Wie kamen Sie dazu?

Ich bin einfach permanent in meinem Berufsleben mit dieser Störung konfrontiert worden. Egal ob in einer Psychoanalytischen Klinik, auf dem Jugendamt oder in der Altenpflege – in allen drei Bereichen ist mir das Messie-Syndrom begegnet. Anfangs habe ich schlicht stark ausgemistet, wenn ich Betroffenen helfen wollte. Doch die betroffenen sehen das als Entsorgung Ihrerselbst an. Auch ich habe die Menschen nur von Symptomen her betrachtet, aber mich nicht mit den Auslösern beschäftigt. Bis ich gemerkt habe, dass nicht nur wir mit den Messies ein Problem haben, sondern auch sie mit uns. Wir haben das Phänomen nicht verstanden und konnten deshalb auch nicht helfen. Daher habe ich vor 18 Jahren entschieden, mich um diese Personen zu kümmern und habe ein Therapiekonzept entwickelt.

Kaum ein Zentimeter freier Boden, dafür Bücher-Berge und Papierstapel: Ein Beispiel für einen Messie-Haushalt. Symbolbild: Anne Faden

Kaum ein Zentimeter freier Boden, dafür Bücher-Berge und Papierstapel: Ein Beispiel für einen Messie-Haushalt. Symbolbild: Anne Faden

Zur Person:

Veronika Schröter ist 57 Jahre alt und leitet seit 2016 das Messie-Kompetenz-Zentrum in Stuttgart. Bereits vor 18 Jahren hat sich Schröter auf die psychische Störung spezialisiert, als Sie während ihrer Tätigkeit auf dem Jugendamt sowie in einer Psychoanalytischen Klinik und in Altenheimen stets mit dem Messie-Syndrom konfrontiert wurde. Sie spricht bundesweit über das Krankheitsbild, gibt Kurse und Fortbildungen. Ab diesem Jahr bietet die Expertin im Stuttgarter Kompetenzzentrum eine einjährige berufsbegleitende Weiterbildung zur Messie-Fachkraft an.

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Erstellt:
20.02.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 21sec
zuletzt aktualisiert: 20.02.2019, 01:00 Uhr

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