Horb · Inklusion

Alle verstehen sich ohne Worte

Im Johannes-Kindergarten in der Horber Weingasse wird in Gebärdensprache kommuniziert, seit zwei gehörlose Kinder die integrative Einrichtung besuchen.

11.05.2019

Von Rita Ott

Das bedeutet „I love you“, erklärt Kindergartenleiterin Gabriela Vogt. Doch was genau gesagt wird, ergibt sich aus dem Zusammenhang.

Das bedeutet „I love you“, erklärt Kindergartenleiterin Gabriela Vogt. Doch was genau gesagt wird, ergibt sich aus dem Zusammenhang.

Ein neugieriger, skeptischer Blick, dann läuft alles wieder, als wären die beiden „fremden“ Leute gar nicht da. Das Einzige, das die Kinder ein bisschen zu stören scheint, ist, dass die zwei Erwachsenen von der Zeitung „ihre Gabi“ mit Beschlag belegen. So schnell, dass man es kaum bemerkt, haben sich die Mädchen und Jungen den Händen Zeichen gegeben, sich abgesprochen, ohne ein Wort zu reden – Gebärdensprache ist im Horber Johannes-Kindergarten inzwischen ganz normal.

Gabriela Vogt ist Leiterin des evangelischen Kindergartens in der Weingasse. Dass es eine integrative Einrichtung ist, merkt man als Außenstehender auf den ersten Blick nicht. Die Kinder mit Beeinträchtigungen – momentan sind es vier – sind voll integriert in die Gemeinschaft. So wie Mia und Emma, zwei gehörlose Geschwisterkinder. Seit sie vor zwei Jahren in den Johannes-Kindergarten kamen, sind die beiden lebhaften Mädchen mittendrin – „und sehr dominant“, haben die Leiterin und ihr Team schnell festgestellt. Und: Wer glaubt, dass gehörlose Kinder leise sind, irrt sich gewaltig. Sie können sich schon lautstark Gehör verschaffen – sie sind ja nicht stumm – wenn sie etwas haben wollen oder wenn ihnen etwas nicht passt. Die anderen Kinder tun das schließlich auch.

Dennoch wird im Kindergarten in der Weingasse oft still kommuniziert, in Gebärdensprache. Die können inzwischen alle, Erzieherinnen und Kinder. Was heißt können: Sie beherrschen sie nicht perfekt, auch nicht Emma und Mia; schließlich lernt man eine Fremdsprache auch nicht in nur zwei Jahren. Was kaum jemand weiß: Auch in der Gebärdensprache gibt es Dialekte. „Bei uns wird in vier Dialekten gebärdet“, erklärt Gabriela Vogt: Mias und Emmas Mama kommt aus Leipzig, Gebärdendolmetscherin Rita Mohlau, die neben schwäbisch auch bayerisch gebärdet, aus Tübingen. Dazu kommt die offizielle Gebärdensprache. Dass für ein Wort auf einmal vier verschiedene Gebärden gelten, „war am Anfang irritierend“. Doch können sich alle miteinander verständigen. Die Gebärdensprache ist zur gemeinsamen Sprache geworden, und das sehen alle als Gewinn, nicht als Handicap.

„Es ist unheimlich spannend, wenn man die Kinder beobachtet, wie sie zusammen spielen, wie sie mit den Kindern mit Beeinträchtigungen umgehen“, erzählt Vogt. „Sie nehmen Rücksicht, haben aber auch keinerlei Berührungsängste.“ Nevio zum Beispiel rausche oft temperamentvoll mit seinem Rollstuhl durch den Raum, mache auf sich aufmerksam, ziehe sich auch mal zurück. Luisa, ein weiteres Kind mit Handicap, war lange krank, jetzt macht sie wieder mit. Auch diese beiden Kinder sind integriert und immer umringt von anderen Kindern, die mit ihnen reden und spielen. Alle sind Teil der Gruppe.

Das zeigt sich auch im täglichen Stuhlkreis, der oft in Gebärdensprache stattfindet. Jedes Kind – und jede Erwachsene, die im Team mitarbeitet – hat einen „Gebärdennamen“, der typisch ist, zum Beispiel eine Geste. Die Kindergartenleiterin streicht sich ums Auge, das ist ihr Name, den die Kinder ihr gegeben haben, weil sie so schöne Augen habe. Daumen an die Stirn und dazu die Finger bewegen – dann ist Emma gemeint, denn sie hat „den Schalk im Nacken“.

Mia war drei, Emma erst zwei Jahre alt, als die Geschwister vor zwei Jahren im eingruppigen Kindergarten in der Weingasse aufgenommen wurden. Für Emma wurde eine Sondergenehmigung erwirkt, die zwei Mädchen sollten zusammen sein, damit sie auf dem gleichen Level sind bei Gebärden- und Spracherwerb. „Wir konnten noch gar nichts“, erinnert sich Gabriela Vogt an die Schwierigkeiten des Teams, sich mit Emma und Mia zu verständigen. Einmal hatte Emma ganz dicke Backen, sie hatte darin Haselnüsse gehamstert. „Ich habe versucht, die Nüsse aus ihrem Mund herauszukriegen“, doch weil Emma die Wörter nicht verstand, und die Kindergarten-Leiterin sich nicht mit Gebärden verständlich machen konnte, hat Emma sie in den Finger gebissen und wütend mit Gebärden reagiert – „ich konnte nicht begreiflich machen, was ich will.“ Das ist jetzt anders. Nicht nur das Team, auch die zwei gehörlosen Mädchen haben dazugelernt.

Die pädagogischen Fachkräfte haben gleich vor zwei Jahren einen Gebärden-Sprachkurs bei Rita Mohlau in Tübingen besucht. Als sie versuchten, mit Mia und Emma mit Gebärden zu kommunizieren, haben die zwei Mädchen anfangs gar nicht reagiert. „Wir mussten den Clown spielen, um auf uns aufmerksam zu machen, um den Kindern zu verdeutlichen, dass wir mit ihnen ‚reden‘ wollen“, so Vogt. Emma und Mia verweigerten anfangs den Blickkontakt, auch zu Hause. Nach sechs bis sieben Wochen im Kindergarten begannen sie, daheim zu erzählen, was im Kindergarten passiert ist. „Ihre Mutter hat geweint vor Freude“, erinnert sich Gabriela Vogt. Die Eltern hatten schon befürchtet, dass ihre Töchter zu spät angefangen hätten, die Gebärdensprache zu lernen. Die Mädchen holten alles auf. Die Eltern sind ebenfalls gehörlos, auch die Geschwister, Zwillinge, die im Juni ein Jahr alt werden. Mia und Emma werden ab September in Nürtingen die Sprachheilschule besuchen.

Eine positive „Nebenwirkung“: Gebärdensprache hilft auch Migrationskindern, die sich auf diese Art verständlich machen können. Viele Gebärden sind international. Die für essen und trinken kennt jeder, ebenso die für „in Ordnung“ oder „gut“ (Daumen nach oben). Die Kinder bekommen die Gebärden automatisch mit und setzen sie um. Wenn Rita Mohlau in den Kindergarten kommt, in Sprechgeschwindigkeit dolmetscht – auch bei Liedern und Geschichten – sind die Kinder ganz bei der Sache, sitzen fasziniert da, wenn Mohlau ein Bilderbuch gebärdet. Das Ganze ist so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass auch nicht gehörlose Kinder untereinander gebärden.

Als positiv empfindet die Kindergartenleiterin die Zusammenarbeit mit den Ämtern, die bereit seien, Integrationskräfte zu zahlen. „Wir sind ein Regelkindergarten und ohne Unterstützung wäre es nicht möglich“.

Seit 20 Jahren ist Gabriela Vogt Leiterin des evangelischen Johannes-Kindergartens – mit viel Freude an ihrer Aufgabe. „Hier zu arbeiten, ist echt schön. Man geht erfüllt heim, freut sich über kleine Erfolge, ist aber auch manchmal besorgt“, etwa als die kleine Luisa so schwer krank war. Die warmherzige und einfühlsame, kompetente und umsichtige Pädagogin und ihr Team sorgen für eine Atmosphäre, in der man sich selbst als Erwachsener sofort angenommen und wohl fühlt. Umso mehr gilt das für die Kinder. Es ist eine fröhliche, bunt gemischte Einrichtung, in der man ganz offensichtlich Freude am Miteinander hat.

Emma (links) und Mia sind gehörlos – nun „spricht“ der ganze Kindergarten Gebärdensprache. Und alle sehen das als Gewinn. Bilder: Karl-Heinz Kuball

Emma (links) und Mia sind gehörlos – nun „spricht“ der ganze Kindergarten Gebärdensprache. Und alle sehen das als Gewinn. Bilder: Karl-Heinz Kuball

Spielend lernen die Kinder die Gebärdensprache mit einem Memory.

Spielend lernen die Kinder die Gebärdensprache mit einem Memory.