Tübingen · Jahresende

Alleinachten: Über die Einsamkeit an den Feiertagen

Zahlreiche Menschen verbringen die Feiertage in Einsamkeit. Andere fühlen sich alleingelassen, obwohl sie diese Zeit im Kreis der Familie verbringen. Das innere Leid rund um Weihnachten scheint so umfangreich wie die Freude. Ein Gespräch mit der Telefonseelsorge.

24.12.2019

Von Eike Freese

Bild: Ulrich Metz

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Mehr als 13 000 Mal klingelte im vergangenen Jahr der Apparat bei der Ökumenischen Telefonseelsorge Neckar-Alb. Die Bandbreite der Anliegen reicht von Arbeitslosigkeit bis zu sexuellen Schwierigkeiten – und selbst fröhlich gestimmte Menschen suchen vereinzelt den Austausch.

An Weihnachten schmerzt Einsamkeit besonders

Ganz vorne bei den Menschen, die sich melden, steht das Thema Einsamkeit. Und zu Weihnachten, sagt Telefonseelsorge-Leiterin Ute von Querfurth, bekommt das Leiden noch einmal eine neue Qualität.

„Man kann gar nicht generell sagen, warum gerade am Jahresende viele Konflikte an die Oberfläche kommen“, so von Querfurth, „die Art der Probleme ist so vielfältig wie die Zahl der Anrufer.“ Echte Kerle seien darunter, die am Jahresende Bilanz ziehen und dann feststellen, dass sie außer ihrem Job und ein paar Kneipenkumpels wenige Bindungen haben. Alte Menschen sind dabei, die wenige oder weit entfernte Verwandte haben und Weihnachten zuhause oder im Heim verbringen müssen. Aber auch etwa Hausfrauen, die mitten im Leben stehen, und denen an Weihnachten Ansprüche und Gruppendynamik in der Familie über den Kopf wachsen. „Auch mitten in der Familie kann man sich ziemlich alleingelassen fühlen, das kommt häufig vor“, so von Querfurth.

Einsamkeit gilt heute als Krankheitsursache

Einsamkeit ist ein Trend-Thema. Das liegt auch daran, dass Gesundheitswissenschaften und -politik das Problem auf neue Art ernst nehmen: Als Auslöser vielfältiger Krankheiten etwa, als gesellschaftliches Problem, nicht als individuelles. Großbritannien etwa hat bereits 2017 „Loneliness“ als Ressort einer eigenen Ministerin eingeführt. Auch in Deutschland fordern Bundespolitiker fraktionsübergreifend einen Einsamkeitsbeauftragten in Berlin, der das Querschnitts-Thema angeht.

Mobilität, Gesundheit, Wohnungsbau, Teilhabe, Jugend, Alter: kaum ein Bereich, der nicht betroffen ist. Die Bundesregierung rechnet aktuell mit rund einem Zehntel der Leute zwischen 45 und 84 Jahren, die sich einsam fühlen und darunter leiden.

„Die Omi, die an Weihnachten einsam aus ihren Gardinen herausschaut, ist eben bei weitem nicht die einzige“, sagt Ute von Querfurth. Die Telefonseelsorge versucht, alle Anrufer für die Statistik nach ihrem Hauptanliegen einzuschätzen. Gut 18 Prozent, sagen die Tübinger, rufen vor allem an, weil sie sich isoliert fühlen.

Dazu gehören auch Leute, die vor kurzem einen Menschen verloren haben und ihre Verlassenheit an Weihnachten besonders merken. Doch auch weniger dramatische Situationen zehren am von Nervenkostüm vieler Leute, so Querfurth. „Wer sich tagelang verausgabt hat, um ein tolles Weihnachtsfest vorzubereiten, und dann merkt, dass es niemand in der Familie wertschätzt, kann auch in eine Krise geraten.“

Wenn die Choreographie nicht stimmt, wird es existentiell

Eines der Probleme, die Weihnachten mitbringt, ist, dass der Korridor dessen, was man als gelungenen Tag bezeichnet, bei vielen Leute recht eng ist. Wo man sich an anderen Wochenenden getrennt den Hobbys widmet, einfach mal spontan ins Kino geht oder Freunde besucht, scheint Weihnachten vielen wie eine Choreographie, die man sich nicht selbst aussucht. „Es spielt gewiss auch mit hinein, dass viele Kindheitserinnerungen damit verbunden sind“, sagt von Querfurth.

Schämen müsse man sich nicht, wenn etwa an der Lametta-Frage ein Konflikt entflammt. „Weihnachtsthemen beginnen für den Einzelnen manchmal ganz banal“, so von Querfurth, „aber in Wirklichkeit sind es ganz existenzielle Lebensthemen, die hervorkommen. Das ist dann nicht mehr banal.“

Manchen Anrufern fehlen die Worte

Wie gelingt mir gerade mein Leben? Welchen Idealbildern vom Leben hänge ich an und warum? „Als Telefonseelsorge sind wir nicht dafür zuständig, darauf eine Antwort zu finden“, so von Querfurth. „Aber wir können zuhören und versuchen, gemeinsam mit dem Menschen seine Lage zu verstehen.“ Oft riefen auch Menschen an, die im Gefühlswirrwarr erst einmal Worte finden wollen für ihre Situation. Auch da sei ihre Einrichtung hilfreich, so die Leiterin.

Grundsätzlich funktioniere die Telefonseelsorge zudem „wie ein Seismograph, der merkt, wo es in einer Gesellschaft schmerzt“. So grundlegend Einsamkeitsgefühle nämlich auch seien, „das Gesicht der Einsamkeit hat sich bestimmt ein wenig gewandelt im Lauf der Jahrzehnte“, so von Querfurth: „Heutzutage kann man 1500 Facebook-Freunde haben und sich dennoch sehr einsam fühlen, weil bedeutsame Beziehungen im Moment fehlen.“

Und auch, wenn die Weihnachtsfeiertage „wie ein Katalysator“ für ebensolche Gefühle wirkten, so von Querfurth, dürfe man auch alleine kreativ werden: „Letztendlich ist es ein weiterer Tag im Jahr, an dem man gut zu sich sein und es sich nett machen darf“, so die psychologische Beraterin.

Die Telefonseelsorge Neckar-Alb

Die Telefonseelsorge Neckar-Alb ist unter den Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 jeden Tag rund um die Uhr erreichbar. Wer nicht am Telefon reden möchte, kann sich auf der Seite online.telefonseelsorge.de für eine Beratung per Internet-Gespräch oder per E-Mail anmelden. Zur Philosophie der Telefonseelsorge gehört, dass man sich die Gesprächspartner nicht aussucht. Die Erreichbarkeit der Mitarbeiter/innen ist gut, denn es gibt in Süddeutschland ein Weiterleitungssystem. Bei der Telefonseelsorge Neckar-Alb arbeiten 75 Ehrenamtliche. Gespräche dauert von einer Minute bis rund eine Stunde, im Schnitt sind es etwas über 20 Minuten.

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Erstellt:
24.12.2019, 15:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 31sec
zuletzt aktualisiert: 24.12.2019, 15:00 Uhr

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