Zeitzeugin

Anlässe zur Einmischung gab es immer

Zum Tod der Tübinger Pazifistin und Feministin Waltraut Balbarischky:Demokratie war für sie Auftrag.

30.11.2016

Von Ulrike Pfeil

Zur Jahrtausendwende beschrieb das TAGBLATT sie als eine Zeugin des 20. Jahrhunderts: Waltraut Balbarischky, hier auf einem Foto von 1987, ist am Freitag im Alter von fast 98 Jahren gestorben. Archivbild: Grohe

Zur Jahrtausendwende beschrieb das TAGBLATT sie als eine Zeugin des 20. Jahrhunderts: Waltraut Balbarischky, hier auf einem Foto von 1987, ist am Freitag im Alter von fast 98 Jahren gestorben. Archivbild: Grohe

„Wenn man sieht, wie sie durchs Wohnzimmer rennt (...), immer in Bewegung“, schrieb ein TAGBLATT-Kollege 1999, sei jeder Gedanke an Resignation ganz weit weg. Und doch war Waltraut Balbarischky am Ende eines langen Lebens oft verwundert darüber, wie wenig politische Vernunft, Erfahrung und Einmischung in der Wirklichkeit ausrichteten. Das hielt sie nicht von Wortmeldungen ab. Bis vor wenigen Jahren bereicherten ihre knappen, klaren Beiträge das Leserforum dieser Zeitung. Denn Dummheit oder Verblendung konnte sie nicht aushalten, ohne zu widersprechen.

Das Hirn einschalten, den Mund aufmachen gegen Unrecht und Krieg – das war die Lehre, die sie aus der Nazizeit zog. Und ein Erbe ihres sozialdemokratischen und pazifistischen Elternhauses. 1919 geboren, in Emden aufgewachsen, erlebte sie als junges Mädchen mit, wie ihr Vater 1933 gleich nach der Machtübernahme der Nazis aus dem Schuldienst entlassen wurde. Er überlebte die Erniedrigung nicht lange.

Abenteuer und Unheil

Sie selbst wurde am Beginn des Zweiten Weltkriegs als Nachrichtenhelferin dienstverpflichtet. Im besetzten Paris erfuhr sie die Ambivalenz von Abenteuer und Unheil. Der drohenden Versetzung an die Ostfront entzog sie sich, wie viele ihrer Kolleginnen, durch Schwangerschaft. Diese jungen Frauen hielten bis nach dem Krieg enge Verbindung über Kladden, die per Post von einer zur anderen geschickt wurden und so die jeweiligen Befindlichkeiten und Schicksalsschläge weitertrugen. Später lieferten die Hefte Material für eine kulturwissenschaftliche Studie über Frauenalltag im Krieg.

Die erste Ehe von Waltraut Balbarischky ging bald nach dem Krieg in die Brüche. Mit inzwischen zwei Söhnen, selbst in den Zwanzigern, stand sie als Alleinerziehende da. Sie zog nach Tübingen, wo ihre Mutter, eine gebürtige Schwäbin, sich niedergelassen hatte. Nun kamen ihr die Französischkenntnisse zugute. Beim Tübinger Kommissariat der französischen Besatzung fand sie Arbeit im Pressebüro. Dort traf sie auch ihren zweiten Mann Percy Balbarischky, einen staatenlosen Letten, der 1928 nach Frankreich emigriert war.

Wiederbewaffnung, Westintegration, das waren im Nachkriegsdeutschland die ersten Themen, die Waltraut Balbarischky zum Widerspruch riefen und zur Vernetzung mit Gleichgesinnten. Bereits in den 1950er Jahren reiste sie zu einem internationalen Friedenskongress nach Indien.

Am meisten aber erregte ihren Zorn, wie geschmeidig frühere Funktionsträger des NS-Staats wieder Karriere machten. Bei der Wahl des Tübinger Oberbürgermeisters Hans Gmelin 1954 protestierte sie in einem Leserbrief gegen ein „politisch so schwer belastetes“ Stadtoberhaupt. Das war mutig, denn solche Stellungnahmen wurden damals noch mehrheitlich als „Nestbeschmutzung“ abgetan. Doch sie nahm das Versprechen der demokratischen Freiheiten im Grundgesetz beim Wort.

Alles Aufgeblasene und Autoritäre war ihr zuwider. Die Studentenbewegung der 68er und die Anfänge der Frauenbewegung bestätigten nur, was sie ohnehin dachte. Sie demonstrierte mit gegen die Notstandsgesetze und den Abtreibungsparagraphen 218. In Düsseldorf, wo die Familie aus beruflichen Gründen hingezogen war, gehörte Waltraut Balbarischky zum Republikanischen Club; eine politische Heimat fand sie in der linksdemokratischen Humanistischen Union.

In den 1970ern, kaum war sie mit ihrem inzwischen pensionierten Mann nach Tübingen zurückgekehrt, unterstützte sie Betroffene gegen den „Radikalenerlass“, der Berufsverbote für Kommunisten und andere Linke zur Folge hatte. Wenige Jahre später traf man sie bei Sitzblockaden gegen Atomraketen auf der Schwäbischen Alb.

Ein Thema wurde dann zu einer späten Lebensaufgabe: Nach dem Ende des Eisernen Vorhangs erfuhr sie von der Not jüdischer Holocaust-Überlebender im Baltikum, die keine Entschädigung von Deutschland erhielten. Spontan sammelte sie Geld im Bekanntenkreis und reiste mit einigen tausend D-Mark (in einem Gürtel versteckt) nach Riga. Weitere Besuche folgten. In ausführlichen Rundbriefen informierte sie regelmäßig ihren Unterstützerkreis. Vor allem aber wandelte sie die Beschämung über die Situation der Opfer um in Zuwendung und Freundschaft.

Bis ins Alter politisch aktiv

Der Tod ihres Mannes 1990 war ein schwerer Einschnitt für sie. Doch ihrem Anspruch an aktive politische Partizipation blieb sie auch alleine und im Alter treu. Wo sie konnte, stärkte sie jüngeren Frauen den Rücken bei der Mühe, Beruf und Familie zu vereinbaren. Im Tübinger Frauenarchiv BAF engagierte sie sich lange ehrenamtlich in der Aufarbeitung der regionalen Frauengeschichte.

„Die Wut ist jung!“ Dieses Zitat der Düsseldorfer Kabarettistin Lore Lorentz machte sie zu ihrem Motto. Ihr nicht nachlassendes kritisches Interesse an der Welt ließ sie auch die letzten Monate der Pflegebedürftigkeit, zu Hause gut betreut, mit Haltung ertragen. Die tägliche Lektüre von zwei Zeitungen gehörte zu ihren Lebenselixiren.

Am Freitag, 25. November, ist Waltraut Balbarischky gestorben. Im Januar wäre sie 98 Jahre alt geworden. Im Kopf und im Herzen war sie viel jünger.

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Erstellt:
30.11.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 18sec
zuletzt aktualisiert: 30.11.2016, 01:00 Uhr

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