Kommentar

Auch ein OB duldet besser keine Hetzkommentare

Was kann, was darf, was muss ein Oberbürgermeister, der Facebook als Plattform nutzt und seine Seite als Bürgerforum zur Verfügung stellt?

20.12.2016

Von Renate Angstmann-Koch

Auch ein OB duldet besser keine Hetzkommentare

Sicher geht seine Sorgfaltspflicht beim Formulieren eigener Beiträge oder beim Moderieren von Debatten nicht so weit, wie sie für Medien gilt, die dem Presserecht unterworfen sind und bewusst den Pressekodex als Maßstab nehmen.

Aber auch ein OB ist zumindest moralisch verpflichtet, zwischen Vermutetem, Behauptetem, Naheliegendem und Erwiesenem zu unterscheiden, in überhitzte Debatten mäßigend einzugreifen und hetzerische Kommentare zu löschen. Nichts und niemand verpflichtet Boris Palmer, auf seiner Facebook-Seite weiterzuverbreiten, dass man irgendjemanden „am Sack auf dem Marktplatz“ aufhängen soll.

Was ist geschehen? Laut Polizei soll ein Mann am Donnerstag am Tübinger Anlagensee ein elfjähriges Mädchen in ein Gebüsch gezerrt haben. Das Kind schrie und wehrte sich zum Glück. Ein Zeuge ging auf das Gebüsch zu, der Angreifer floh, wurde aber von dem Zeugen verfolgt und mit Hilfe weiterer Passanten überwältigt. Eine Frau kümmerte sich um das Kind, bis die Polizei kam.

Die Beamten nahmen den Mann fest. Der 26-Jährige kam in Untersuchungshaft, gegen ihn wird wegen Körperverletzung und eines versuchten Sexualdelikts ermittelt. Wenn es zur Anklage kommt, wird ein Gericht feststellen, wie der genaue Ablauf des Geschehens war, was der Mann im Sinn hatte, ob er schuldfähig und welches Urteil angemessen ist. So läuft das in einem Rechtsstaat.

Bei Boris Palmer liest sich die Sache etwas anders. Er schreibt von „versuchter Vergewaltigung“ und spricht von einem Täter, als wäre all das schon erwiesen und juristisch eingeordnet. Er schreibt auch, dass der Angreifer ein Deutscher war. Seither überschlägt sich auf Palmers Facebook-Seite die Diskussion. Natürlich geht es um Flüchtlinge, was überhaupt nicht zum Thema passt. Aber es wird auch über die Gefahren des Straßenverkehrs diskutiert und darüber, ob der OB die Tat als erwiesen hätte hinstellen und die Nationalität des Täters nennen dürfen – und ob er wüste Verwünschungen gegen Sexualstraftäter, die sich wie ein Aufruf zur Selbstjustiz lesen („hoffentlich stirbt der Hurensohn qualvoll“), nicht löschen soll.

Wir meinen: Ja, das sollte er. Auch ohne juristisch fassbare Pflicht könnte er im Interesse eines friedlichen Miteinanders in seiner Stadt auf zivile Umgangsformen bestehen. Und er sollte nicht auch noch Öl ins Feuer gießen („Ich finde Täter noch harmlos für so einen Menschen“). Es nützt auch nichts zu betonen, dass es ein Deutscher war, was logischerweise bei den meisten Straftaten hierzulande zutrifft. Wer der Presse, amtlichen Statistiken und Behörden misstraut, glaubt so etwas sowieso nicht – und wenn er halt einfach behauptet, der Betroffene wäre „kein Biodeutscher“ und eben erst eingebürgert.

Wir halten uns weiter an den Pressekodex. „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“ (Ziffer 12). Der bestand bei dem Angriff auf die Elfjährige sicher nicht – auch nicht bei einem Deutschen. Und ein Verdächtiger bleibt bei uns ein Verdächtiger, bis ein Gericht festgestellt hat, dass er ein Straftäter ist: „Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen“, heißt es in Ziffer 13 über die Unschuldsvermutung. Sie bleibt ein hohes Gut.