Horb · Augenzeuge

Auf schmalem Grat

Eine 17-Jährige konnte knapp gerettet werden, als sie am Horber Bahnhof über die Gleise lief. Ein Rexinger war vor Ort und erlebte das Geschehen hautnah.

01.06.2020

Von Mathias Huckert

Kaum einen halben Meter Platz: Duyar Hüseyin beobachtete am Donnerstag, wie es am Bahnhof Horb fast zu einem Unglück kam.Bild: Mathias Huckert

Kaum einen halben Meter Platz: Duyar Hüseyin beobachtete am Donnerstag, wie es am Bahnhof Horb fast zu einem Unglück kam.Bild: Mathias Huckert

Höchstens einen halben Meter breit ist der Spalt, der am Horber Bahnhof am Donnerstagabend über Leben oder Tod entschied. Als kurz nach 22 Uhr ein IC aus Richtung Tübingen kommt, schickt die Schaffnerin Warnsignale voraus. Denn am Gleis 2A herrscht Lebensgefahr: Eine 17-Jährige kauert neben dem Bahngleis, als der Zug bereits um die Kurve biegt. Fest an sich drückt die 17-Jährige einen Collie, mit dem sie wenige Augenblicke zuvor versucht hatte, die Gleise verbotenerweise zu überqueren. Die Lichter des IC sind für die wenigen Personen, die sich um kurz nach zehn am Bahnsteig aufhalten, bereits zu sehen. Unüberhörbar ist dann das Hupen des Zuges.

Als die Schaffnerin bremst, ist die Jugendliche mit ihrem Hund nicht mehr allein: Duyar Hüseyin ist vor Ort. Der Rexinger beschreibt die dramatische Situation wie folgt: „Ich dachte, ich ziehe sie und den Hund hoch.“ Er zerrte nach seiner Aussage mit aller Kraft an ihr. Doch es gelingt dem Mann aus Rexingen nicht, sie auf den Bahnsteig zu heben: Der Zug ist zu nah, Hüseyin kann die Frau nicht in Sicherheit bringen. Er trifft eine Entscheidung: loslassen. Dann duckt er sich weg, hält schützend die Hände vors Gesicht und hat das Unglück bereits vor Augen.

Als die Notbremsung des ICs vorbei ist, wagt der 40-Jährige den Blick in den Spalt – nach „exakt acht Sekunden“, wie er sagt: „Ich war mir sicher, dass es sie und den Hund zerrissen hat.“ Doch die Frau lebt. Auch dem Collie geht es gut. Nachdem Hüseyin die Frau hochgezogen haben will, umarmt sie ihn lange. Schon vor dem Beinahe-Unfall habe sie laut Hüseyin „wie durch den Wind“ gewirkt.

Weder er noch die Polizei konnten bestätigen, dass die Frau unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Nachdem klar ist, dass die Frau lebt, treffen die Horber Polizei und der Notarzt ein, beide verständigt von der Schaffnerin des Zuges. Später kommen Beamte der Bundespolizei dazu, befragen die 17-Jährige und den Mann, der erklärt, er habe sie retten wollen.

Rettung nicht in Polizeibericht

Im offiziellen Bericht der Bundespolizei taucht sein Name nicht auf. Auf Nachfrage der SÜDWEST PRESSE kann Dieter Hutt, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Offenburg, nicht bestätigen, dass Duyar Hüseyin versucht hat, die junge Frau und ihr Haustier zu retten, als der IC gerade in den Bahnhof einfuhr.

Im Bericht seiner Kollegen heißt es lediglich, dass „Passanten“ die Frau von den Gleisen holten, als der Zug bereits im Horber Bahnhof stand. Im Bericht der Horber Polizei findet Hüseyin zwar namentlich Erwähnung, doch auch hier fehlt der Rettungsversuch.

Auf Nachfrage der SÜDWEST PRESSE bleibt der Pizzabäcker bei seiner Darstellung: Er sei öfter am Bahnhof. Die junge Frau sei ihm an dem Abend aufgefallen, als Hüseyin befürchtete, dass sie von zwei Männern belästigt werden könnte. „Die versuchten, sie festzuhalten, oder haben an ihren Haaren rumgespielt“, sagt der zweifache Familienvater. Kurz darauf sei sie auf die Gleise abgestiegen, ihr Hund habe sich dagegen gewehrt: „Der wollte da nicht hin“, so Hüseyin. Also habe die Frau das Tier auf den Arm genommen. Als Hüseyin die Lichter des Zugs bemerkte, sei er von seinem Sitzplatz am Gleis 2A aufgestanden und habe geschrien, bis er zu der Frau hinrannte. Die presste sich bereits mit aller Kraft gegen die Wand neben den Gleisen.

„Vier bis fünf Mal“ habe Hüseyin versucht, die Frau aus der lebensgefährlichen Situation zu befreien. Das sie überlebte, hatte die Frau laut Hüseyin vor allem ihrer schmalen Statur zu verdanken.

Nachdem der Zug gehalten hatte, seien alle geschockt gewesen – allen voran die junge Frau: „Die Schaffnerin drohte ihr noch, dass sie jetzt die Kosten zu tragen hat“, sagt Hüseyin, der daraufhin versuchte, die Frau zu beschwichtigen.

Duyar Hüseyin erklärt, dass es wichtig sei, zu jeder Zeit aufmerksam zu sein: „Wenn ich weiter aufs Handy geglotzt hätte, wäre sie jetzt tot.“ Das können die Behörden nicht bestätigen. Eines aber ist unbestreitbar: Manchmal ist es wichtig, genauer hinzuschauen.

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Erstellt:
01.06.2020, 10:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 01.06.2020, 10:30 Uhr

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