Das absolute Gegenteil von Islam

Aus Jürgen Todenhöfers Sicht hat der Westen mit seinen Kriegen den IS herangezüchtet

Jürgen Todenhöfer war zehn Tage im so genannten „Islamischen Staat“. Weshalb das mörderische Regime ausgerechnet ihn herein- und vor allem wieder hinausließ? Es hat kein anderer gefragt, sagte er am Mittwochabend im ausverkauften Sparkassen-Carré (siehe auch „Übrigens“, erste Lokalseite).

26.11.2015

Von Renate Angstmann-Koch

Aus Jürgen Todenhöfers Sicht hat der Westen mit seinen Kriegen den IS herangezüchtet

Tübingen. Bevor Jürgen Todenhöfer Ende 2014 die Reise wagte, hatte er sich mit Unterstützung seines Sohns Frederic über Monate im Internet mit deutschen IS-Kämpfern ausgetauscht. Er wollte einen eigenen Eindruck gewinnen und suchte nach Informationen aus erster Hand. Mit dem Medienbeauftragten des so genannten „Islamischen Staats“ Abu Qatadah kommunizierte er etwa ein halbes Jahr über Skype. Er handelte Bedingungen aus, um für Recherchen Städte wie Rakka oder Mosul zu besuchen. Er forderte eine Garantie für sicheres und freies Geleit für sich selbst, seine Begleiter und sein Hab und Gut. Tatsächlich erhielt er eine Urkunde vom Büro des Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi.

650 Zuhörerinnen und Zuhörer, unter ihnen auffallend viele junge Muslime und Muslima, lauschten am Mittwochabend gebannt der Erzählung Jürgen Todenhöfers, der vor kurzem seinen 75. Geburtstag feierte. Viele ließen sich am Ende sein Buch signieren. Alle Sitzplätze im Carré waren belegt, die Veranstaltung der Kreissparkasse und der Buchhandlung Osiander schon lange ausverkauft. In der ersten Reihe saßen Freunde, politische Weggefährten und Angehörige des früheren Tübinger CDU-Bundestagsabgeordneten, der sich heute als Publizist bezeichnet. Er traf leicht verspätet zu der Lesung aus seinem neuen Buch ein. Das Autorenhonorar geht ebenso wie eine Spende der Veranstalter des Abends an seine Stiftung Sternenstaub. Sie finanziert Projekte für Menschen in Not in Afghanistan, Irak, Syrien, Kongo und Deutschland.

Osiander-Chef Heinrich Riethmüller stellte den Autor mit einem Zitat aus der Autobiografie Erhard Eppler vor, der erst in der Vorwoche auf Einladung der Buchhandlung in Tübingen las. Am härtesten bekämpft, schrieb der frühere SPD-Entwicklungsminister, habe ihn Jürgen Todenhöfer, der damals zum rechten „Stahlhelm“-Flügel der CDU gehörte. Auch seinetwegen sei die Stimmung im zuständigen Ausschuss eisig gewesen – und entsprechend frostig die Begrüßung, als beide sich zufällig später in der Bahn trafen. Zu Epplers Erstaunen arbeitete der CDU-Mann im Zug intensiv eine von ihm verfasste Neuerscheinung durch.

Sich intensiv auch mit den Gedanken des Gegners zu befassen und sich ein eigenes Bild von dessen Lebenswelt zu machen: Diese Haltung behielt der Jurist Todenhöfer, der 1990 nach 18 Jahren aus dem Bundestag ausschied und wie schon seit 1987 weiter als Manager im Burda-Verlag arbeitete, offenbar bei. Fast alle Informationen, die er heute in den auflagenstärksten Medien über den Mittleren Osten lese, seien falsch. Er wolle sie mit seinen Büchern und auf seiner Facebook-Seite zurechtrücken, sagte Todenhöfer. Er erreiche ein Millionen-Publikum.

Politisch scheint er sich gewandelt zu haben. Einst unterstützte der CDU-Mann die von den USA geförderten Mudschahidin und ihren Guerillakrieg gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan. Seit 1980 war er – zum Teil inkognito – immer wieder dort. Doch seit 2001 tritt Todenhöfer als engagierter Kritiker der US-amerikanischen Kriege in Afghanistan und im Irak auf.

Der IS, den er für ein mörderisches, gegen alle Werte des doch so barmherzigen Islam verstoßendes Regime hält, sei eine Antwort auf die Bomben George W. Bushs gewesen, sagte er am Mittwoch. Er sei „ein totaler Gegner“ des IS. Aber er könne verstehen, wie so etwas entsteht: „Wir haben diesen Terrorismus mit unseren ungerechten Kriegen gezüchtet.“ Das war sein Schlusswort unter tosendem Applaus. Todenhöfer hatte zunächst die Gewissensnöte geschildert, als er entscheiden musste, ob er die gefährliche Reise tatsächlich antreten soll. „Was ist das Wort einer Terrororganisation wert?“ fragte sich neben ihm auch sein Sohn. Er war überzeugt, dass der IS seinen Vater nur ins Land lassen wollte, um ihn öffentlich zu enthaupten. Der Vater glaubte indes trotz aller bekannt gewordener Grausamkeiten, lebend zurückkehren zu können, da der IS als Staat Anerkennung suchte.

Neben Malcom als weiterem Begleiter, der dabei half, das Geschehen zu dokumentieren, reiste Frederic mit 31 Jahren dennoch mit – trotz Jürgen Todenhöfers inständiger Bitte, als einziges weiteres männliches Familienmitglied daheim zu bleiben. Denn er hätte sich zeitlebens Vorwürfe gemacht, die Reise mit vorbereitet zu haben, wenn seinem Vater etwas zugestoßen wäre. Wie der Sohn mit dunkler Wollmütze zu Jürgen Todenhöfer an den Lesetisch auf die Bühne kam, gehörte zu den rührenden Momenten des Abends.

Todenhöfer besorgte in Erbil ein in Überdosis tödlich wirkendes Medikament, um im Notfall den IS nicht das Drehbuch seines Todes schreiben zu lassen. Immer wieder schildert er in seinem Buch, wie er sich seinen vom IS gestellten Reisebegleitern widersetzte, um sich nicht zum Gehilfen ihrer Propaganda machen zu lassen und seine Autorität nicht zu verlieren. Er ließ weder Begleiter noch Gesprächspartner im Unklaren, was er über ihre Ideologie denkt. Besonders brenzlige Situationen ergaben sich mit dem Fahrer der Gruppe. Bis heute hält es Todenhöfer für möglich, dass der stets vermummte Mann, dessen Gesicht er nur durch Zufall einmal für einen kurzen Moment sah, der berüchtigte IS-Henker Jihadi John war.

Über den „Islamischen Staat“ gibt es so viel Entsetzliches zu berichten, dass die Medien nicht auch noch Falschmeldungen verbreiten müssten, findet Todenhöfer und nennt Details. Es stimme nicht, dass Dieben stets die rechte Hand abgehackt würde. Ein in Moscheen ausgebildeter Richter erklärte ihm, es werde stets die Hand amputiert, die das Verbrechen beging. Ebenso wenig treffe zu, dass im IS nur ein freudloses Dasein ohne Jeans, modischem Haarschnitt und Fußball möglich sei. Mehrfach begegnete die Gruppe Kindern und Jugendlichen in schicken Trikots.

Wie konnte der IS mit einer Armee von höchstens 300 Kämpfern Mosul erobern und 24 000 irakische Soldaten in die Flucht schlagen, wie kann er auch sonst mit seinen erbeuteten oder auf dem Schwarzmarkt erworbenen Waffen militärisch so erfolgreich sein? Diese Frage stellte Todenhöfer sich und anderen immer wieder. „Unsere Feinde hatten keine Lehre, für die sie kämpfen“, erklärte ihm einer der Eroberer. Sie gingen nicht nur davon aus, den gesamten arabischen Raum zu erobern, sondern auch Rom und Konstantinopel, letztlich die ganze Welt. Die interviewten IS-Kämpfer machten keinen Hehl aus ihren Absichten. Einer sagte auch, er respektiere zwar Todenhöfers Garantie für die Reise – „aber wenn wir nach Deutschland kommen, werden wir Sie als erstes finden und sie töten“.

    Selbstverständlich werde man Europa erobern. Und während Christen und Juden leben dürften, wenn sie Schutzsteuer zahlten, betrachte man die 150 Millionen Schiiten als Abtrünnige und werde sie töten, wenn sie nicht konvertierten. Die Anzahl sei egal: „Der, der sich unserem Glauben nicht anschließt, schließt sich dem Islam nicht an“, wird Abu Qatadah in einem Interview über die Ziele des IS zitiert.

Todenhöfers Buch ist stark dokumentarisch gehalten. Seine Position hielt er nach der Rückkehr in einem offenen Brief an den Kalifen und die ausländischen Kämpfer des IS fest. „Ihre Methoden sind nach den Geboten des Koran unislamisch und schaden der gesamten muslimischen Welt“, stellt er in dem Schreiben klar. Terror habe mit dem Islam so wenig zu tun wie Vergewaltigung mit Liebe. Er bekam vom Kalifen sogar indirekt in einer Audiobotschaft Antwort: „Es gibt Leute, die behaupten, der Islam sei Barmherzigkeit. Die wissen nichts vom Islam. Der Islam ist Krieg.“

Aus Jürgen Todenhöfers Sicht hat der Westen mit seinen Kriegen den IS herangezüchtet

Drei Schritte anstelle der Luftangriffe

Mit Bomben ist der IS nicht zu besiegen, ist Jürgen Todenhöfer überzeugt. Sie träfen hauptsächlich Zivilisten und schürten nur neuen Hass. Er empfiehlt drei konkrete Schritte:

Die USA müssen die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien stoppen. Sie seien „eine Katastrophe“, ein „Riesenfehler“ auch der deutschen Politik.

Die Türkei müsse die Grenzen nach Syrien für neue IS-Kämpfer schließen. Derzeit kämen täglich 200 an.

Die verschiedenen Strömungen des Islam müssen sich soweit einigen, dass Sunniten im Irak und in Syrien wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen. Das könne dem IS die Basis entziehen.