Ein niederschwelliger Zugang zu Hölderlin

Bausubstanz und Ausstellung im Tübinger Wahrzeichen werden renoviert

Er ist das Wahrzeichen Tübingens – der Dichterturm, der sich aus der Neckarfront auratisch ins touristische Blickfeld schiebt. Wallfahrtsort nicht nur für Freunde der Literatur: Er wird umgebaut und organisatorisch neu aufgestellt.

12.10.2016

Von Wilhelm Triebold

Neckarfront mit Hölderlinturm. Archivbild: Metz

Neckarfront mit Hölderlinturm. Archivbild: Metz

Wie originalgetreu müssen kulturelle Gedenkstätten beschaffen sein? „Doch uns ist gegeben / Auf keiner Stätte zu ruhn“, heißt es in „Hyperions Schicksalslied“. Denn die wenigsten Dichterorte sind völlig authentisch oder identisch, sie verändern sich im Laufe der Zeit oder durch äußere Umstände.

Selbst der markante Turm am Neckarufer, in dem Friedrich Hölderlin die Hälfte seines Lebens (von 1807 bis 1843) verbrachte, zeigt sich heute keineswegs mehr im Urzustand wie zu des Dichters Zeiten. 1875 war das Gebäude niedergebrannt, es wurde im Jahr darauf neu errichtet, nun mit rundem statt mit mehreckigem Turm.

Hat das etwa dem Erinnern an Hölderlin geschadet? „Authentizität steckt nicht in der Bausubstanz“, meinte Thomas Schmidt vorgestern im städtischen Kulturausschuss. Schmidt leitet die Marbacher Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten (alim) im Land, und er ist federführend mit der inhaltlichen Neuausrichtung des sanierungsbedürftigen Hölderlinturms befasst.

Der Turm, so eindrucksvoll er vor allem auch des Abends leuchtet, kann nach drei Jahrzehnten ein Lifting vertragen. Für die Gesamtkosten von 1,25 Millionen Euro hat die Stadt bereits 394 000 Euro reserviert, 800 000 Euro werden folgen. Für die Dauerausstellung, die ebenfalls runderneuert wird, hat das Land bereits 56 000 Euro überwiesen, der komplette Landeszuschuss beläuft sich dann auf 100 000 Euro.

Aber schon länger wurde unter den Literatur-Stätten rundum „keine vom Land so gefördert wie der Hölderlinturm“, betonte Schmidt im Ausschuss. Über eine halbe Million Euro an Landeszuschüssen wurde da aufgewendet. Zum Vergleich: Schillers Marbacher Geburtshaus bekam 280 000 Euro und das Hebel-Haus im Wiesental 150 000 Euro überwiesen, die Hesse-Gedenkstätte in Gaienhofen 200 000 Euro. Hölderlin, so scheint’s, liegt dem Land, aber auch der Stadt Tübingen sehr am Herzen.

Das ist offenbar nicht überall so. Ein bisschen weiter neckarabwärts, in Nürtingen, befindet sich der wohl „authentischste“ Hölderlin-Standort – „Der Mutter Haus“ in der Neckarsteige, wo Hölderlin seine Kindheit und Jugend verbrachte. „Es gibt kein Haus in ganz Deutschland“, so Nürtingens Hölderlinverein, „das als Wohn- und Wirkungsort Hölderlins noch so viel an Originalsubstanz aufweist.“ Dieses Hölderlinhaus, „ein herausragender authentischer Ort, erfüllt offensichtlicher als jedes andere Hölderlin-Gebäude in Deutschland die gesetzlichen Merkmale eines Denkmals“.

Warum die Nürtinger Hölderlinfreunde, gemeinsam mit dem Schwäbischen Heimatbund, solch alarmistische Töne anschlagen? Weil das Nürtinger Beispiel zeigt, wie man‘s nicht machen soll. Anscheinend ist der Stadt Nürtingen die Rettung der „Hölderlinsubstanz“, wie der Verein das nennt, zu teuer – oder nicht teuer genug. Die denkmalgerecht konservatorische Sanierung des Nürtinger Hauses würde rund 2,6 Millionen Euro kosten. Doch die Stadtverwaltung peilt lieber eine mindestens 4,6 Millionen Euro teure Aufstockung des Gebäudes an, um dort vor allem Seminarräume für „Zukunftsthemen wie Industrie 4.0 oder die Zusammenarbeit mit Firmen“ anzusiedeln, wie die „Nürtinger Zeitung“ vor kurzem berichtete. Gestern war das Thema im Nürtinger Gemeinderat.

Doch zurück zu Tübingens Gemeinderat. Dort wurden die Pläne zum äußeren und inneren Umbau des Hölderlinturms im Aussschuss wohlgefällig aufgenommen. Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger wollte hinter Nürtingen und anderen Hölderlin-Orten nicht zurückstehen und rühmte deshalb den Tübinger Turm als „einen der wichtigsten literarischen Orte Deutschlands, wenn nicht europaweit.“ Jeder deutsche und internationale Dichter, so Waizenegger, beschäftige sich mit Hölderlin, und „sehr viele Menschen kommen, nicht weil sie Tübingen, sondern weil sie Hölderlin kennen.“

Hölderlin als Tübinger Markenzeichen: „Unser erstes Exponat ist der Turm“, unterstrich Thomas Schmidt. Viele Originaldokumente wird es aber auch in der künftigen Präsentation nicht geben, schon wegen der Lichtempfindlichkeit solcher Preziosen. Allerdings will Marbachs Literaturarchiv gelegentlich ausleihen. „Wir gestalten den Raum so, dass er nie wieder aus dem Kopf geht“, kündigte Schmidt Großes an.

Selbst wenn die Tübinger Hölderlin-Gedenkstätte auch künftig nicht völlig barrierefrei gemacht werden kann – geplant ist ein „niederschwelliger Zugang zu Hölderlin“, wie es heißt. Gemeint ist, dass Hölderlins nicht ganz unkompliziertes Werk auch unakademisch vorgestellt und aufbereitet werden soll. Ein Beispiel: Hölderlins Tisch, erst vor zwei Jahrzehnten wiederentdeckt und das wohl einzige historisch verbriefte Möbel im Turm, könnte zum Gegenstand eines „Metrik-Labors“ werden. Thomas Schmid: „Hölderlin hat die Dichtkunst modernisiert wie kein anderer“. Entsprechendes Rhythmusgefühl ließe sich nachempfinden, wenn man, wie einst Hölderlin beim Dichten, das Metrum auf die Replik des Tisches klopft.

Im Takt von Hölderlin: Im Frühjahr 2017 steht im Gemeinderat der Baubeschluss an, zwei Jahre später soll das Gebäude umgebaut sein.

Ein bisschen Luft nach hinten bliebe dann noch bei Bauverzögerungen. Doch allerspätestens zum 20. März 2020 muss der Hölderlinturm wieder offen sein. Der Grund: dann wird überall groß Hölderlins 250. Geburtstag gefeiert. Und falls man bis dahin nicht fertig ist? Bloß nicht, befand Kulturbürgermeisterin Christine Arbogast und verordnete flugs ein „Denkverbot“.

So sah der Turm früher aus: Darstellung aus dem 19. Jahrhundert

So sah der Turm früher aus: Darstellung aus dem 19. Jahrhundert

Neckarfront mit Hölderlinturm. Archivbild: Metz

Neckarfront mit Hölderlinturm. Archivbild: Metz

Museumsleitung wird von der Stadt übernommen

Die Museumsleitungwird künftig von einer städtischen Kraft übernommen: Das ist eine der Neuerungen, die der Vertrag zwischen Stadt und der Hölderlingesellschaft mit sich bringt. Die Stadt zahlt jährlich 25 000 Euro an die Hölderlingesellschaft und übernimmt die Hälfte des Geschäftsführergehalts. Die Gesellschaft muss nun innerhalb des Gebäudes umziehen. „Der Hölderlinturm soll Zentrum der Hölderlinforschung bleiben“, fasste Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger zusammen, „aber erweitert werden.“