Großes Sozialkritisches Kino, kraftvoll und künstlerisch ausgereift.

Beijing Bicycle

Großes Sozialkritisches Kino, kraftvoll und künstlerisch ausgereift.

24.11.2015

Von che

Beijing Bicycle

In Tübingen wäre das schnell abgehakt. Ein geklautes Fahrrad so was kostet niemanden eine schlaflose Nacht. Anders in Peking. Dort ist der Drahtesel, wie dem Kurierfahrer Guei eingebleut wird, "das Werkzeug, mit dem du deine tägliche Schale Reis verdienst". Oder man braucht ihn, wie der Oberschüler Jian, um in der Clique und bei den Mädels statussymbolisch zu punkten. Weil beide Buben sich als rechtmäßige Eigentümer ein und desselben Edelgefährts wähnen, kommt es zu einem blutig eskalierenden Streit.

Wer vom chinesischen Kino bloß die historischen Epen von Chen Kaige ("Lebewohl, meine Konkubine") oder Xhang Yimou ("Heimweg") kennt, wird sich über "Beijing Bicycle" wundern. Erstens spielt der Film des jungen Regisseurs Wang Xiaoshuai im Hier und Jetzt, der recht unwirtlich anmutenden smog- und betongrauen Millionenstadt Peking. Und zweitens verpackt er seine Sozialkritik, anders als die Altmeister, nicht mehr in die Watte historischer Parabeln.

Dabei zielt Wangs Angriff nicht, wie man im Westen zu vermuten geneigt ist, auf den Mangel an "Reformen". Ganz im Gegenteil berichtet er von sozialer Kälte und Besitzgier, von der Spaltung der Gesellschaft in sorglos luxurierende Reiche, einen sich eitel aufplusternden Mittelstand und verzweifelt ums Überleben ringende Habenichtse - den typischen Begleitumständen des entfesselten Kapitalismus. Wenn sich Guei und Jian kurz vor dem blutigen Finale das umkämpfte Fahrrad brüderlich teilen, wirkt das fast wie eine neosozialistische Utopie.

Faszinierend ist "Beijing Bicycle" aber nicht nur als soziologisches Dokument. Wang erzählt die Geschichte in einer ausgeklügelten Bildsprache, die eigentümlich zwischen Nähe und Distanz, melodramatischer Attacke aufs Gemüt und unvermitteltem Rückzug auf den Standpunkt des neutralen Beobachters schwankt. Erst sie veredelt den Film zu einem Meisterwerk, das sich vor seinem Vorbild, dem neorealistischen Klassiker "Fahrraddiebe", nicht zu verstecken braucht.

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Erstellt:
24.11.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 54sec
zuletzt aktualisiert: 24.11.2015, 12:00 Uhr

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