Leise-Disco

Besser als RTL

Kopfhörer auf und tanzen. Nicht daheim sondern im Beisein Anderer. Ein interessanter Ansatz mit einem Denkfehler: Dem Titel der Veranstaltung.

05.12.2016

Von Michael Sturm

Du musst Dich entscheiden, zwei Kanäle sind frei – Besucher der Leise-Disco im Sparkassen-Carré hatten die Wahl. Bild: Sturm

Du musst Dich entscheiden, zwei Kanäle sind frei – Besucher der Leise-Disco im Sparkassen-Carré hatten die Wahl. Bild: Sturm

Leise, Disco! Als Schild an der Tür zu einem Tanzsaal wäre das ein ziemlich widersinniger Zwei-Wort-
Befehl. Und doch galt am Freitagabend im Tübinger Sparkassen-Carré genau das: Im Saal sollte es leise sein, während Disco-Gänger tanzten – mit Kopfhörern auf den Ohren.

„Für uns ist es ein Versuch zu sehen, wie es ankommt“, sagte Larissa Schwarz von der veranstaltenden Agentur, beauftragt vom Radiosender SWR 1. Der veranstaltet seit zwei Jahren Discos, schickt DJ’s vor Ort, die spielen, was die Hörer wünschen. Das weißSWR1 natürlich: Der
Sender fordert seine Hörer
seit über 25 Jahren im Herbst dazu auf, eine Hitparade zu erstellen. Was dort beliebt ist, wird in den Discos gespielt.

Die Leise-Disco (in offiziellem Denglisch „Silent Disco“) betritt einen neuen Pfad. Die Gäste erhalten am Einlass Kopfhörer. So lustig es sich anhört, so lustig ist es in der Realität: Zu Beginn des Abends sind die rhythmisch klackenden Absätze von Sibylle Klingbeil aus Wendelsheim das Lauteste, was zu hören ist. Plötzlich wirft ein Teil des Publikums die Arme nach oben und ruft kollektiv: „Jaaaa!“ Ihre Kopfhörer leuchten grün. Sie hören was SWR-DJ Johannes Held auflegt. Kurz darauf ist allen anderen klar was sie hören, denn ein Frauenchor stimmt „Dancing Queen“ von Abba an. Das bekommt der andere Teil des Publikums akustisch nicht mit: Die haben nämlich den Alternativ-Kanal gewählt, mit Maik Schieber am Mischpult, erkennbar am blau-leuchtenden Kopfhörer. Bei letzterem bleibt Sibylle Klingbeil, die Frau mit den klingenden Absätzen. Sie mag es rockig: „Wenn jetzt noch ‚Paranoid‘ kommt, bin ich zufrieden.“

Manchmal laufen auf beiden Kanälen Stücke, auf die man früher in der Disco nie verzichten wollte: „Black Betty“ versus „Ain’t nobody“ – keine einfache Wahl. Verblüffend ist, wenn sich beide Zuhörerschaften fast synchron bewegen, zu Stücken, die man ansonsten nicht unbedingt in einem Satz zusammen erwähnen würde – die aber fast das selbe Tempo haben. Das gilt für „I was made for loving you“ von Kiss, das sowohl zu Irene Caras „Flashdance“-Titellied „What a feeling“ als auch zu Santanas „Oye como va“ passt.

Mittlerweile war es das mit der Leise-Disco. Die beiden DJs machen Publikums-Animation. Maik Schieber fordert zu Bon Jovis „It’s my life“ Textsicherheit. Ein Chor leistet dem während des Refrains Folge, aber etwas dünnstimmig. Warum? Katharina Huber aus Stuttgart sagt: „Man kommt sich beobachtet vor.
In der normalen Disco singen
alle, da fällt es nicht auf.“
Hier schon. Und wenn ihr ein Stück Text nicht einfällt? „Dann mach ich’s wie Phil Collins:
Dann summ’ ich!“

Viele Besucher gehören der Ü 40-Kategorie an. Es sind jedoch auch Twens da, die sich zur Musik schaukeln, die sie vermutlich aus den Küchenradios der Eltern kennen. „Man weiß was man bekommt“, sagt der 21-jährige Yannik Düventäster. Es seien ja schließlich Klassiker, die auch in der normalen Disco laufen.

Es ist spannend die Pärchen zu beobachten, die zu unterschiedlicher Musik Händchen halten. Etwa Heike und Guido Hafner aus der Tübinger Südstadt. Während er sich von Bon Jovi beschallen lässt, bekommt sie „Sing Hallelujah“ von Dr. Alban, dem singenden Rasta-Zahnarzt aus Schweden. „Das geht zusammen, man kann sich aber auch gegenseitig anstacheln“, sagt Guido Hafner stellvertretend. Sie grün, er blau – beide haben ihren Wunsch-DJ gefunden. Die Ankündigung im TAGBLATT habe sie hergeführt, sagt Heike Hafner und freut sich über einen tollen Abend zum Genießen: „Wir haben unsere Tochter untergebracht bekommen. Es ist das erste Mal seit langem, dass wir mal zusammen abends weggehen können.“

Etwas Kritik schadet nicht. Susanne Deißer aus Pfäffingen kommt mit den Kopfhörern nicht klar: „Als Headbangerin fühle ich mich eingeschränkt.“ Ihre Freundin Marie Hildebrandt aus Reutlingen stört die Animation durch die DJs. Dennoch amüsieren sich die beiden, vor allem über das, was sie zu sehen bekommen. Marie Hildebrandt: „Das ist besser als RTL!“

Wenn nur das Klackern der Absätze zu hören ist

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Erstellt:
05.12.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 01sec
zuletzt aktualisiert: 05.12.2016, 01:00 Uhr

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