Beim ersten Dreh kam das Monster im Poncho

Cinelatino: Festivalgast Ana Cristina Barragán aus Ecuador fing schon als Fünfjährige mit dem Filmem

Ana Cristina Barragán hat einen der anrührendsten Filme des diesjährigen Cinelatino gedreht: „Alba“ zeigt eine Elfjährige, die sich in sich zurückzieht, weil ihre Mutter sterbenskrank ist. „So ein intimer Blickwinkel ist sehr ungewöhnlich für Ecuador“, sagte die 28-Jährige  im TAGBLATT-Gespräch.

18.04.2016

Von DOROTHEE HERMANN

„Ich wollte ein Mädchen, das authentisch ist“, sagt Ana Barragán.Bild: Sommer

„Ich wollte ein Mädchen, das authentisch ist“, sagt Ana Barragán.Bild: Sommer

Tübingen. Von einem Augenblick auf den anderen bricht für die elfjährige Alba (großartig: Macarena Arias) die gewohnte Welt auseinander. Ihre todkranke Mutter liegt im Krankenhaus. Das Mädchen muss zu ihrem Vater ziehen, den sie kaum kennt: von der Geborgenheit eines hellen, geräumigen Zuhause in eine etwas schäbige, provisorisch eingerichtete Wohnung. Auf die abrupte seelische Entwurzelung scheint der soziale Abstieg zu folgen.

Im Schulhof sitzt Alba abseits, etwas beschäftigt sie, und doch ist sie ganz Ohr für die anderen Mädchen, die einander aufgeregt erzählen, wie sich der erste Kuss anfühlt. Alba ist nicht einfach schüchtern, sie ist ein Mensch, der mit einer schweren Verlusterfahrung konfrontiert ist, einer Belastung, für die sie eigentlich noch viel zu jung ist.

Nach der zwölfjährigen Darstellerin hat Regisseurin Ana Cristina Barragán für ihr Spielfilmdebüt lange gesucht. „Wir haben 600 Castings gemacht, sind an Schulen gegangen“, erinnert sich die 28-Jährige. Ich wollte ein Mädchen, das authentisch ist, und sich nicht nur überlegt: wie sehe ich aus?“

Die Filmemacherin hat die junge Darstellerin genau auf die Rolle vorbereitet. Unter anderem ließ sie das Mädchen Gefühle malen. Die Zwölfjährige sollte sich klarmachen: „Was ist die Farbe für Ärger, für Angst, für Neid?“ Das Ergebnis geht unter die Haut: „Sie spielt nicht, sie empfindet.“

Die Krankheit der Mutter wird im Film nicht genau benannt. „Ich wollte symbolisch über Krankheit, über den Verlust der Mutter sprechen“, sagt Barragán: „Es ist kein autobiografischer Film, aber sehr nah an Dingen, die ich selbst erlebt habe.“ Sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Mutter sterben könnte. Ihre Mutter hat eine Krebserkrankung glücklicherweise überlebt. „Es geht ihr gut.“

Im Film sind sich das Mädchen Alba und ihr Vater (Pablo Aguirre Andrade) anfangs ziemlich fremd (die Eltern sind geschieden). Er sieht ein bisschen zerzaust und deprimiert aus, wie ein Junkie oder wie ein Penner, finden die fieseren unter Albas Mitschülerinnen. Einmal blitzt kurz ein Jugendfoto von ihm auf: ein Lächeln im Gesicht, gutaussehend, unbeschwert.

„Wenn man den Film sieht, kann jeder sich vorstellen, was passiert ist“, sagt Barragán. „Ich mag Filme, die nicht zu viel verraten. Ich gebe nur Hinweise.“ Geld oder andere Statussymbole hat der Film-Vater nicht. „Er wird nicht ausgegrenzt, weil er arm ist, sondern weil er fast keine sozialen Fähigkeiten hat.“

Er versucht, seiner Tochter mit seinen bescheidenen Mitteln ein neues Zuhause zu schaffen. Mal gelingt es ihm, mal nicht. Wenn er mit Alba im Kino einen Kinderfilm anschaut, verkennt er, „wie schnell sie heranwächst, und sie fühlt sich beschämt durch ihn“, so die Regisseurin. Andererseits reagiert er ungeheuer feinfühlig, als die Tochter ihre erste Menstruation hat.

Die (zeitweilige) Distanz zum Vater hat ebenfalls einen biografischen Hintergrund: Als Kind fühlte sich Barragán, Tochter einer Lehrerin und eines Rechtsanwalts, ihrem Vater sehr nahe. In der Pubertät schlich sich ein Gefühl der Fremdheit ein.

„Alba hält viele Emotionen zurück, frisst alles in sich hinein“, so Barragán. „Sie ist ein Mensch, der sehr viel in sich aufstaut.“ Das Mädchen drückt sich häufig nur durch kleine Gesten und Mimik aus, bei einer gleichzeitig sehr komplexen Gefühlswelt. „Dadurch, dass sie das alles für sich behält, entsteht eine Anspannung, die sich auf den Zuschauer überträgt.“

Alba ist in einem Alter, in dem Mädchen normalerweise aufblühen, sagt die Regisseurin. „Bei ihr ist diese Phase abgeschnitten durch das, was ihr widerfährt.“ Diese intime Perspektive sei in Ecuador noch sehr ungewöhnlich für einen Film: „Vielfach geht es um die soziale Realität, die unterschiedlichen Landschaften und darum, wie die Leute reden.“

Schon mit fünf Jahren schnappte sich Barragán die Kamera ihres Vaters und drehte kurze Videos mit Freunden und Familienangehörigen. Wenig später musste ihre drei Jahre jüngere Schwester Fernanda nach ihren Anweisungen vor der Kamera agieren: als Monster (mit einem Poncho verkleidet) oder als Notfallpatientin, deren reichlich fließendes Blut aus rotem Krepppapier drapiert wurde. Die Schwester ist Schauspielerin geworden. Dolmetscherin: Karla Dietrich

Info „Alba“ läuft am Montag, 18. April, 20.30 Uhr, im Kino Museum. Englische Untertitel. Regisseurin anwesend.

Zum Artikel

Erstellt:
18.04.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 18.04.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.