Sindelfingen

Cold Case: „Ihre Augen flehten um Hilfe“

Im Mordprozess um die vor 25 Jahren in Sindelfingen getötete Brigitta J. sagt ein Zeuge aus, der die Tat beobachtet, aber falsch eingeordnet hat.

11.02.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Zwei US-Soldaten haben am Tatort den Täter aus der Nähe gesehen. So wurde der Fall 1996 bei „Aktenzeichen XY“ gezeigt. Foto: Screenshot: ZDF

Zwei US-Soldaten haben am Tatort den Täter aus der Nähe gesehen. So wurde der Fall 1996 bei „Aktenzeichen XY“ gezeigt. Foto: Screenshot: ZDF

Stuttgart. Als Brigitta J. am Abend des 14. Juli 1995 in Sindelfingen auf offener Straße von einem Mann ermordet wird, werden zwei US-Amerikaner quasi unmittelbar Zeugen. Es gehört zur Tragik dieses Falls, dass sie die Situation verkennen und der jungen Frau deshalb nicht mehr rechtzeitig helfen können. „Ich hielt die beiden für ein Paar“, sagt Dennis B., pensionierter Navy-Pilot, am Mittwoch im Prozess um die vor 25 Jahren getötete Stuttgarterin. Der US-Amerikaner ist in dem Verfahren so etwas wie der Kronzeuge: Er blickte dem Täter ins Gesicht, bevor der in der Nacht verschwand.

Und zwar für 25 Jahre. Erst Anfang 2020 wurde mit dem wegen Totschlags vorbestraften Ex-Topmanager Hartmut M. ein Tatverdächtiger festgenommen. Er soll die ihm unbekannte J. auf dem Heimweg von der Arbeit überfallen und mit 24 Stichen getötet haben. Eine alte DNA-Spur hatte die Ermittler nach Jahrzehnten auf seine Spur geführt.

Vernehmung per Videoschalte

Die lang erwartete Vernehmung des Zeugen B. findet unter besonderen Umständen statt: Der Pilot, der nach seiner aktiven Zeit bei der Armee für private US-Fluggesellschaften tätig war, wird per Videoschalte befragt. Der 68-Jährige sitzt in einem Behördengebäude in Atlanta/Georgia und schildert eindrücklich, woran er sich erinnert. Detailreich, stringent und mit Körpereinsatz. Manche Szene spielt er quasi nach.

Am Tatabend sind der Pilot und ein Unteroffizier, der kommende Woche aussagen soll, auf dem Weg zu ihrem Hotel nahe des Breuningerlandes in Sindelfingen. Für die Soldaten soll es der letzte Abend in Deutschland sein. Links auf dem Gehweg nehmen sie eine rufende Frau und einen Mann wahr. „Ich habe gesagt, wir müssen gucken, was da los ist“, erinnert sich B. Er stoppt den Wagen, schaut zu dem vermeintlich streitenden Paar. „Er hielt sie an der Taille umfasst eng am Körper, sie rief nicht mehr“, erzählt B. „Ich hatte dann das Gefühl, dass sich die Gemüter beruhigt hatten.“ Sein Kollege habe darauf gedrungen weiterzufahren.

B. startet den Wagen, in dem Moment habe die Frau den Arm nach ihm ausgestreckt. „Da sah ich die Angst in ihrem Gesicht und wusste: Hier stimmt etwas nicht.“ Der Soldat fährt langsam weiter und beobachtet die beiden im Rückspiegel. Er sieht, wie der Mann versucht, J. am Handgelenk über die Straße zu ziehen, wie sie sich wehrt, wie er ihr schließlich einen Faustschlag gegen die Brust versetzt. Sie fällt, versucht, sich den Angreifer mit strampelnden Beinen vom Leib zu halten. Da dreht B. den Wagen, fährt zurück. Seine Scheinwerfer nehmen den Täter ins Visier, der den Knöchel der Frau in der Hand hält und ihn anschaut. Abwartend. Nicht nervös, nicht gestresst.

Dann sei der Mann an die Fahrertüre getreten und habe etwas gesagt, so B. weiter. Was, verstehen die Zeugen nicht. Sie sprechen kaum Deutsch, aus Sicherheitsgründen lassen sie die Scheiben oben und den Motor laufen. B. entdeckt in der einen Hand des Mannes ein Messer. Später wird er zudem aussagen, zusätzlich einen spitzen Gegenstand gesehen zu haben. Bis heute ist unklar, womit J. genau erstochen wurde. Er deutet auf die Waffe, darauf geht der Angreifer zu einem am Straßenrand geparkten Auto und fährt davon.

Was der Zeuge dann schildert, ist nur schwer zu ertragen. Er steigt aus dem Wagen aus, sieht, wie sich die sterbende J. auf den Bauch dreht und versucht, auf den Unterarmen von der Straße zu robben. Er will ihr aufhelfen, dreht sie um, schaut in ein leichenblasses Gesicht, ist entsetzt. „Ihre Augen flehten um Hilfe, ihr Lippen bewegten sich, gesagt hat sie aber nichts mehr.“ B. sieht kaum Blut, nur viele kleine Löcher in J.s T-Shirt. Erst später wird er erfahren, dass es sich um Einstichstellen handelt.

Theorie vom zweiten Täter

In den Stunden und Tagen nach der Tat und auch in den folgenden Jahren wird B. immer wieder vernommen. Mit seiner Hilfe wird ein Phantombild erstellt, das einen Mann mit kantigem Gesicht und tief sitzenden Augen zeigt. Ein Bild, das er heute immer noch für treffend hält, wie er vor Gericht sagt. Mit einem alten Foto des Angeklagten konfrontiert, sieht er große Übereinstimmungen. Zu den Knackpunkten dieses Verfahrens gehört allerdings, dass B. diese Übereinstimmungen zumindest in Teilen auch bei einem anderen Mann erkennt, der während der Ermittlungen lange als Tatverdächtiger galt.

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Erstellt:
11.02.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 11.02.2021, 06:00 Uhr

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