Besuch in einem Sprachkurs für Flüchtlinge

Das Abc des Lebens

Bis zum Sprachniveau, das für eine Ausbildung in Deutschland erwartet wird, ist es für Flüchtlinge ein weiter Weg.

15.11.2016

Von Lorenzo Zimmer

Deutschlehrerin Tamuna Koiawa hakt bei Mohamad nach: Wie war das mit den Relativsätzen?Bild: Sommer

Deutschlehrerin Tamuna Koiawa hakt bei Mohamad nach: Wie war das mit den Relativsätzen?Bild: Sommer

Im Raum 108 der Volkshochschule hängen zwei Karten, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Eine zeigt – im Maßstab 1:40000000 – die ganze Welt. Shanghai ist hier genauso ein winziger Punkt wie Berlin, New York, Sydney, Damaskus oder Bielefeld. Daneben hängt eine Karte von Tübingen an der Wand. Maßstab 1:12500. Im Süden begrenzt der Rammert, im Norden der Schönbuch, was alle, die hier regelmäßig sitzen, ihre neue Heimat nennen können. Vorher lebten sie in Homs und Aleppo, in Beirut und Tel Aviv.

8.30 Uhr ist Beginn des Deutschkurses B1 bei Tamuna Koiawa. Er ist zusammen mit den Kursen A1, A2 und einem über hiesige Geschichte und Kultur Teil des sogenannten Integrationskurses. Er soll Flüchtlinge mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit fit fürs Leben in der deutschen Gesellschaft machen.

Nezar hat die Sache mit den Relativsätzen noch nicht ganz verstanden. „Das ist das Foto, das den Gletscher zeigt“, liest Koiawa aus den Hausaufgaben vor. „Welcher Fall?“ „Dativ“, sagt Nezar zögerlich. „Wen zeigt das Foto?“, bohrt Koiawa nach.. „Den Gletscher. Ah! Akkusativ“, korrigiert der 20-jährige Israeli sich selbst. Seit fünf Monaten ist er in Deutschland, die Kurse A1 und 2 hat er bereits hinter sich.

Nezar gehört zu den besonders Fleißigen in seiner Klasse. Das Wort „Streber“ würde hier keinem über die Lippen kommen, nur weil er immer seine Hausaufgaben macht. Und manchmal sogar ein bisschen früher kommt, um Rückfragen zu stellen und sich auf den Unterricht einzustimmen. Der lebhafte Tarek geht es anders an. Bis er nach Deutschland kam, arbeitete er in Beirut als Journalist. Bei jedem Thema hakt er nach, verwickelt seine Lehrerin gerne in Diskussionen und Rückfragen. Die nimmt es gelassen: „Wir diskutieren ein ander Mal, okay?“ Nur wer sich hier reinhängt, hat gute Chancen auf das, weswegen er überhaupt nach Deutschland gekommen ist: soziale Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe, einen festen Job. Eine Perspektive.

Derzeit absolvieren 400 Flüchtlinge wie Nezar und Tarek einen Sprachkurs an der Tübinger Volkshochschule. Für Gerlinde Schroth, die Integrationsbeauftragte der VHS, ist das oft ein organisatorischer Drahtseilakt: „Viele weitere warten auf einen Platz“, sagt sie. Und auch Absolventen des B1-Kurses müssen erstmal warten. „B2 ist das Niveau, das für eine Berufsausbildung erwartet wird“, weiß Schroth. Es ist vergleichbar mit dem, was im Englisch-Abitur in Deutschland erwartet wird. Die politische Entscheidung, dass das Bundesamt für Migration auch diese Kurse übernimmt, ist gefallen. Doch bis die Förderung anläuft, dauert es noch.

Abgesehen von solchen Wartezeiten und der ständigen Suche nach Räumen und Lehrkräften kämpfen Schroth und ihre Kollegen vor allem mit der Alltagsbewältigung: „Die Menge macht uns einfach zu schaffen“. sagt sie. Hinzu kommt, dass Schroth und die Lehrer der Kurse mehr tun, als in ihrer Jobbeschreibung steht: „Die Flüchtlinge sind mit weit mehr beschäftigt als ,nur‘ dem Erwerb der Sprache“, sagt sie. Vor allem bei Behördengängen brauchen sie oft Hilfe – die eigentlich die Aufgabenbereiche eines Lehrers übersteigt.

Und doch ist Schroth guter Dinge, blickt positiv in die Zukunft: „Ich mache auch sehr viele schöne Erfahrungen.“ Dass ihr ein Schüler bei der Anmeldung nicht die Hand geben wollte, ist da ein Einzelfall: „Ich habe ihm übersetzen lassen, dass er mit solchem Verhalten in unserer Gesellschaft anecken wird“, sagt sie. Bestanden hat sie auf dem Händedruck nicht. „Das hätte ich nicht richtig gefunden.“

Demgegenüber stehen viele Begegnungen, an die sie gerne denkt: „Man baut Bindungen auf. Ein frischer Vater kam letztens stolz hier rein, um mir das Foto von seiner gesunden Tochter zu zeigen“, sagt Schroth. „Das freut einen dann natürlich sehr.“

Im Raum 108 hat Frau Koiawa indes einen Stuhlkreis angeordnet. Um die Relativsätze zu üben, darf sich jeder einen Nachbarn wünschen, den er zunächst näher beschreiben muss. „Ich wünsche mir einen Nachbarn, der über zwei Meter groß ist“, sagt Tarek. Der großgewachsene Nezar wechselt den Platz. „Ich wünsche mir jemanden neben mich, der immer gerne mit der Lehrerin diskutiert“, sagt Khalil. Tarek grinst über das ganze Gesicht: „Das bin wohl ich“, und setzt sich zu seinem Mitschüler.

Der Aufbau des Integrationskurses

Insgesamt 660 Stunden sind für den sogenannten Integrationskurs für Flüchtlinge veranschlagt. Davon fallen jeweils 200 Stunden auf Deutsch A1, A2 und B1. Die restlichen 60 Stunden sind ein Orientierungskurs, der grundlegende Werte der Gesellschaft, Kenntnisse der Rechtsordnung, Geschichte und Kultur vermitteln soll. Am Ende stehen zwei Prüfungen. Teilnehmer, die sie bestehen, erhalten ein Zertifikat vom Bundesamt für Migration. EU-Bürger, die kein Arbeitslosengeld erhalten, bezahlen die Hälfte des Kurses selbst – bei erfolgreich abgeschlossenen Prüfungen wird ein weiteres Viertel übernommen. Die Kurse für gestattete Flüchtlinge aus nicht sicheren Herkunftsländern werden komplett vom Bundesamt für Migration getragen.