Lichtmomente des Lebens

Das Junge Zimmertheater feierte am Samstag eine fulminante Premiere

Eine Jugend heute und eine Jugend um 1940: Welche Erfahrungen sind zeitlos, welche heute kaum noch nachvollziehbar? Diese Frage schwebt über dem Stück „100 Jahre Leben“ des Jungen Zimmertheaters, das am Samstag uraufgeführt wurde.

04.04.2016

Von Philipp Koebnik

Herausgeputzt: Besonders gern erinnern sich die Frauen in „100 Jahre Leben“ an das Tanzen. Bild: Alexander Gonschior

Herausgeputzt: Besonders gern erinnern sich die Frauen in „100 Jahre Leben“ an das Tanzen. Bild: Alexander Gonschior

Tübingen. Einzig vier Stühle stehen auf der nackten Bühne, außerdem ein Klavier. Abwechselnd sind Stimmen zu hören. „Ja, mit 17, da war ich...“ Und: „Mit 17, da hatte ich...“ Oder: „Ja, ja, mit 17, da hat, da hat mich...“ Eine junge Frau betritt die Bühne – die Erinnerungen werden konkreter. „Ich hatte eine sehr nette Freundin. Sie sagte zu mir: Jetzt sind wir schon 19 und immer noch ungeküsst.“

So beginnt das Stück „100 Jahre Leben“, das am Samstag im ausverkauften Zimmertheater Premiere feierte. Über ein Jahr führte Regisseur Johannes Karl Gesprächsrunden mit Senioren aus dem Betreuten Wohnen im Pauline-Krone-Heim. Junge Schauspielerinnen und Schauspieler schlüpfen gewissermaßen in die Jugend der Alten. Entstanden ist daraus eine anrührende Collage aus schönen, aber auch schmerzvollen Erinnerungen, aus Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten.

„Die Lichtmomente, die ich hatte, das war das Tanzengehen“, sagt die junge Frau und beginnt überschwänglich das Tanzbein zu schwingen. „Ach, das Tanzen, das war immer gut.“ Inzwischen haben sich auch die anderen Darsteller auf der Bühne versammelt. Das Thema Schule weckt Erinnerungen, die sie teilen. „Wir haben den Handgruß in der Hitlerjugend gelernt, aber nach der Kapitulation hat uns niemand gesagt, dass wir so nicht mehr grüßen sollen.“ – „Man ging immer zur Schule und sagte: Heil Hitler.“ – „Dann war plötzlich alles anders, wir Kinder wussten nicht damit umzugehen.“

Schöne Erinnerungen werden geschildert, etwa von der Kindheit auf einem Bauernhof. Und Tanzen, immer wieder das Tanzen. Herrlich komisch ist es etwa, als die Regeln fürs sittlich anständige Tanzen vorgelesen werden. Doch diese Momente der vertrauten Leichtigkeit, des wohligen Schwelgens in der Vergangenheit werden immer wieder jäh durchbrochen. Erinnerungen an den Krieg werden wach. „Brandbomben hat es auf Köln geregnet, die ganze Stadt brannte, die Holztreppe brannte – Wissen Sie, welche Angst ich noch heute auf Holztreppen habe?“

Eindrucksvoll wird spürbar, wie gesellschaftliche Konventionen die jungen Persönlichkeiten einschränkten und gängelten. „Ich weiß noch, wie das war, mit der ersten Periode. Mein Vater hat mich ausgeschimpft.“ Niemand habe ihr gesagt, dass das wieder passieren würde. „Das zweite Mal war es in der Schule – meine Nebensitzerin sagte zu mir: Bleib bloß sitzen!“ Der Zuschauer fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit, deren Prüderie und geistige Enge heute befremdlich wirken. „Verliebt war ich nicht, aber ich mochte ihn sehr gern.“ – „Es hieß: Glück ist ja auch, zufrieden verheiratet zu sein.“

Ein „Generationenchor“

statt Einzelschicksale

Das Premieren-Publikum war von der überzeugenden Leistung der Schauspieler begeistert und spendete langen und tosenden Applaus. Fast alle der Darsteller im Alter zwischen 15 und 19 haben schon für das Junge Zimmertheater gespielt.

Zwei Jahre hat die Vorbereitung insgesamt gedauert, sagte Karl dem TAGBLATT. Aus den Gesprächen mit 25 Senioren hat er diese „generationenübergreifende Geschichte“ entwickelt. „Ich wollte keine Einzelschicksale schildern, sondern es sollte ein Generationenchor werden“, so der 33-Jährige, der in Hamburg den Master in Performance studiert und zuvor drei Jahre lang das Junge Zimmertheater in Tübingen geleitet hat. Am Donnerstag wird das Stück im Pauline-Krone-Heim aufgeführt.