Zeitgespräch mit Journalist Wolfgang Bauer

Das Unteramt als Schule für den Kriegsberichterstatter

Der Reutlinger Journalist Wolfgang Bauer berichtet aus den Krisengebieten der Welt – im Spitalhofsaal erzählt er von seinen Anfängen als Reporter.

07.10.2016

Von Matthias Reichert

Wolfgang Bauer am Mittwochabend im „Zeitgespräch“ mit Bernhard Bosold (links) und Ulla Heinemann. Bild: Haas

Wolfgang Bauer am Mittwochabend im „Zeitgespräch“ mit Bernhard Bosold (links) und Ulla Heinemann. Bild: Haas

Das erste Gebot für eine Reportage-Reise ins Kriegsgebiet: „Ausschlafen. Man sollte nie unausgeschlafen in so gefährliche Gebiete fahren“, sagt Wolfgang Bauer im „Zeitgespräch“ der Katholischen Erwachsenenbildung. Er war in Syrien, in Afghanistan, in Nigeria und in Nordkorea. Doch angefangen hat alles im Walddorfhäslacher Gemeinderat. Bei dessen leidenschaftlichen Debatten habe er als junger TAGBLATT-Reporter die Sozialmechanismen kennengelernt, welche Entscheidungen vorangehen, erzählt Bauer im Gespräch mit Bernhard Bosold und Ulla Heinemann. Und erinnert sich, wie er nachts einen Jäger auf dem Münsinger Truppenübungsplatz bei der Wildschweinjagd begleitete. Das habe ihn am Journalistenberuf gereizt – zeitweise in die Haut anderer zu schlüpfen, andere Lebensperspektiven kennenzulernen.

Er hat nie ein Volontariat absolviert und auch keinen Studienabschluss. „Ich bin gelernter Abiturient.“ Am Erfolg hat das nichts geändert. Heute ist Bauer als Reporter direkt der Chefredaktion der „Zeit“ unterstellt – was nicht zuletzt eine Haftungs-Frage bei gefährlichen Einsätzen sei. Er erzählt von den Hamburger Wochenkonferenzen: 60 bis 70 Leute, in der Mitte Chefredakteur Giovanni di Lorenzo mit dampfendem Tee. „Sie pflegen diese Debattenkultur, das mag ich.“

Wolfgang Bauer hat fast jeden Journalistenpreis gewonnen. Seine Bücher „Übers Meer. Mit Syrern auf der Flucht“ (2014) und „Die geraubten Mädchen“ (2016) über die nigerianische Terror-Organisation Boko Haram machten ihn noch bekannter. Nach seinen Büchern entstanden Theaterstücke, und seine heutige Heimatstadt Reutlingen bekommt im „Zeit-Magazin“ immer wieder kolumnistisch ihr Fett weg. Doch darum geht es vor rund 250 Besuchern im vollen Spitalhofsaal nicht. Sondern um die Krisengebiete, die Bauer regelmäßig aufsucht.

Den IS politisch bekämpfen

Die Radikalisierung islamistischer Terrorgruppen sei politisch bedingt, da sei Religion „nur ein Schild“. Es gehe um den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, dessen Lösung vergleichbar lange dauern werde wie einst der 30-jährige Krieg in Europa. Im Mittelpunkt stehe nicht Theologie, das sei ein weit verbreiteter Irrtum. „Die Entwicklung des Islam wird momentan von der Straße bestimmt, nicht von den Lehrstühlen.“ Was auch Ausdruck einer Demokratisierung sei. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ sei aus Sicht vieler Sunniten deren einzige Schutzmacht vor den schiitischen Machthabern. Bauer glaubt, dass die Sunniten in Syrien und im Irak irgendwann einen eigenen Staat brauchten – die heutigen Grenzen seien ein künstliches Relikt aus der Kolonialzeit. Man müsse den IS politisch bekämpfen, die Stämme überzeugen, sich von ihm zu lösen. Und für Syrien sei eine Flugverbotszone die einzige Lösung.

Bauer ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, weniger ein Analytiker. Er beschreibt plastisch den Aberglauben der Menschen in Afrika, die Opfer der Terrormiliz Boko Haram seien selbst von Dämonen infiziert. Der Reporter fordert einen Marshall-Plan für Afrika, dort müsse die Bildung gefördert werden: „Sonst wird ein Staat nach dem anderen auseinanderbrechen.“

Er weiß das Privileg des Lebens im reichen Europa zu schätzen. „Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass es diese zwei Realitäten gibt.“ Doch Verzweiflung und Selbstmorde existierten auch in Deutschland. Andererseits: „Selbst im Krieg gibt es immer noch Glück, Lachen, Freundschaften – ein Glück, um das ich diese Menschen manchmal beneide.“

Hierzulande zeigten die Statistiken weit mehr rechtsextreme als islamistische Verbrechen. Wie vor kurzem im TAGBLATT verlangt Bauer, Deutschland müsse sich besser um die vielen Flüchtlinge kümmern und diese intensiver begleiten – dann könne man eher erkennen, von wem eine Gefahr ausgehe. „Die Populisten machen es sich sehr einfach. Man kann die Flüchtlinge nicht dauerhaft mit Mauern und Zäunen an den Grenzen der EU zwischenbunkern.“ Für den Reporter, der auf der ganzen Welt zuhause ist, sind Grenzen „eigentlich nur Phantasiegeburten“. Doch er bleibt Realist: „Wenn wir offene Grenzen verkünden würden, würde die Gesellschaft noch mehr nach rechts rücken“.

Journalistische Anfänge beim TAGBLATT

Wolfgang Bauer wurde 1970 in Hamburg geboren. Er wuchs zwischen Bremen und Oldenburg auf, danach lebte er einige Zeit in Undingen auf der Schwäbischen Alb. Weil sein Vater als Berufsoffizier oft umzog, besuchte er sieben Schulen. Bauer verpflichtete sich als Zeitsoldat, doch nach 18 Monaten verweigerte er den Kriegsdienst. In Tübingen studierte er vorübergehend Islamwissenschaft, Geografie und Geschichte. Seine journalistische Laufbahn begann 1994 beim SCHWÄBISCHEN TAGBLATT, sie führte ihn über „Stern“ und „Focus“ zur „Zeit“, für die er heute als Reporter aus internationalen Krisengebieten berichtet. Bauer lebt in Reutlingen.