Binge Eating

Den Körper nicht mehr hassen

Kann man eine schwere Ess-Störung in vier Wochen überwinden? Jana Wichmann hat es mit Hilfe von Tübinger Psychologinnen geschafft.

07.10.2016

Von Ulrich Janßen

„Direkt zum Kühlschrank“: Binge Eater (hier eine gestellte Szene) haben keine Kontrolle mehr über ihr Essen  Bild: Andrey Armyagov - Fotolia

„Direkt zum Kühlschrank“: Binge Eater (hier eine gestellte Szene) haben keine Kontrolle mehr über ihr Essen Bild: Andrey Armyagov - Fotolia

Bis zum Feierabend hielt Jana Wichmann (der Name ist von der Redaktion geändert) immer durch. An ihrem Arbeitsplatz aß die Tübingerin nichts, und auch mittags in der Kantine legte sie nur wenig auf ihren Teller. Niemand von ihren Kollegen ahnte, dass die Frau, die so freundlich und offen lächeln kann, noch ein anderes Leben hatte. „Es begann, sobald ich allein war“, sagt die 53-Jährige, „oft schon im Auto.“

Auf dem Weg nach Hause aß sie die ersten Schokoriegel, um Stress abzubauen. Zuhause ging es dann direkt zum Kühlschrank. Meist aß sie erst ein paar Joghurts mit Honig („ich lege eigentlich Wert auf gesunde Ernährung“), doch bald verschlang sie alles, was der Kühlschrank hergab. Kalte Nudeln vom Vortag, Schokolade, Salami, Müsli, Käse. Binge Eater wie Jana Wichmann essen sehr viel auf einmal, sie essen rasend schnell und ohne Freude. Es ist als müssten sie ein großes Loch in sich stopfen.

Anderthalb Jahre ging das so, fast jeder Tag endete mit einem Ess-Anfall. Binge Eater können nicht aufhören zu essen, wenn sie satt sind, sie verlieren die Kontrolle über sich. Anders als bei der Bulimie unternehmen sie auch nichts gegen die Gewichtszunahme, erbrechen nicht, nehmen keine Abführmittel und werden entsprechend dick. „Ich habe zwölf Kilo zugenommen“, sagt Wichmann. „Dabei war ich in meiner Jugend ziemlich dünn.“ Nach den Ess-Anfällen habe sie sich vor sich selbst geekelt, sagt Jana Wichmann: „Ich hatte einen enormen Selbsthass.“ Ein Hass, der prompt die nächsten Anfälle auslöste.

Dann las sie von einer Frau, die an der Binge Eating-Störung litt und dachte: „Das bin doch ich.“ Noch am gleichen Abend meldete sie sich per Mail für eine Studie im Fachbereich Psychologie der Tübinger Uni an.

Die Klinischen Psychologinnen um Prof. Jennifer Svaldi glauben, dass die Ess-Anfälle mit einer gestörten Wahrnehmung des eigenen Körpers zusammenhängen. Binge Eater seien, ähnlich wie Magersüchtige, fixiert auf sogenannte „Problemzonen“ ihres Körpers, auf Bauch oder Oberschenkel.

In der Tübinger Therapie, die derzeit noch erprobt wird, lernen die Klienten, den eigenen Körper ganzheitlich wahrzunehmen, ihn wertfrei anzusehen und zu beschreiben. Bis zur Studie habe sie sich gar nicht mehr getraut, sich selbst anzuschauen, sagt Wichmann. Im Institut stand sie plötzlich in hautfarbener Unterwäsche vor einem großen dreigeteilten Spiegel. „Ich musste ganz genau meinen Körper beschreiben, jeden einzelnen Teil, Bauch, Nase, Ellbogen, die Haut.“ Wie beschreibt man seinen Körper? Das ist gar nicht so einfach. Gemeinsam mit der Psychologin suchte Wichmann nach Worten, die passen, aber nicht verletzen.

Die Hoffnung der Psychologen ist, dass die Klienten sich mit ihrem Körper anfreunden, den Bauch nicht mehr hässlich finden, schöne Stellen entdecken, selbstbewusster werden, nicht mehr den Hass auf sich mit Essen bekämpfen müssen.

Bei Jana Wichmann ist das gelungen. Nach nur sechs, jeweils eineinhalb Stunden langen Sitzungen kann die Tübingerin jetzt sagen, dass „meine Beine eigentlich ganz passabel aussehen, dass ich schöne Augen und ein ganz schönes Gesicht habe“.

Reicht das, um eine schwere Ess-Störung zu überwinden? „Es ist eine sehr, sehr kurze Intervention“, gibt die Studienleiterin zu, die Psychologin Kerstin Krohmer, „und es ist Verhaltenstherapie.“ Es geht darum, dass die Klienten ihren Alltag meistern, und nicht unbedingt, dass sie die Gründe für die Erkrankung verstehen und aufarbeiten.

Angesprochen werden die Gründe trotzdem, versichert Krohmer. Jana Wichmann zum Beispiel fühlte sich nie geliebt von ihrer Mutter. Sie war eine Nachzüglerin, erlebte sich oft als fremdgesteuert und traute sich nichts zu. „Schon als Kind habe ich mich mit Schokolade getröstet“, sagt sie. Im Büro (sie arbeitet in einer Bank) tat sie sich schwer, wurde gemobbt, ihre Ehe scheiterte, sie litt an einer Depression. Als dann noch eine Beziehungskrise hinzukam mit einem Mann, den sie über eine Partnerschaftsbörse kennengelernt hatte, begannen die Ess-Attacken.

Niemand weiß, ob Jana Wichmann dauerhaft geheilt ist. Aber die Studie hat ihr geholfen, wieder die Kontrolle über ihr Essen zu bekommen. Das war vor einem Jahr. Sie ist keine schlanke Frau geworden, aber das ist auch nicht das Ziel einer Therapie, die darauf setzt, den Körper so anzunehmen wie er ist.

„So wie ich bin, bin ich okay“: Heute kann Jana Wichmann das über sich selbst sagen. Und sie ist zuversichtlich, dass sie dies nie mehr vergessen wird.

Wer hat Interesse, bei einer Studie mitzumachen?

Über eine Million Menschen leiden in Deutschland an unkontrollierbaren Ess-Anfällen, der sogenannten Binge Eating-Störung („Binge“ heißt übersetzt Gelage). Die klinischen Psychologen der Tübinger Uni glauben, die Störung mit einer Verbesserung der Körperzufriedenheit behandeln zu können. Für eine Studie suchen sie noch Menschen im Alter von 18 bis 69 Jahren, die an der Störung leiden und übergewichtig sind (BMI größer als 25). Die Teilnahme ist kostenlos. Infos und Kontaktdaten unter: www.uni-tuebingen.de/de/56168.

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Erstellt:
07.10.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 28sec
zuletzt aktualisiert: 07.10.2016, 01:00 Uhr

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