Sulz · Engagement

Der Duft der Erdbeerblätter

Die geburtsblinde Sabine Ludi bringt sich beim „Urban Gardening“-Projekt ein. Beim Kaffeekränzchen ist dort dienstags jeder willkommen.

25.06.2020

Von Jürgen A. Klemenz

Nach getaner Arbeit beim Stadtgärtern-Projekt gibt es für die Helfer und Besucher Kaffee und Kuchen. Die grüne Oase in der Brühlstraße entsteht seit unter der Leitung von Alexandra Rau (rechts). Bilder: kpd

Nach getaner Arbeit beim Stadtgärtern-Projekt gibt es für die Helfer und Besucher Kaffee und Kuchen. Die grüne Oase in der Brühlstraße entsteht seit unter der Leitung von Alexandra Rau (rechts). Bilder: kpd

Eine bunt gemischte Gesellschaft sitzt um den Kaffeetisch im Schatten eines Pavillons in der Brühlstraße. Der einst brachliegende Platz dort ist nicht wiederzuerkennen. Anstelle der Tristesse, die dort noch vor etwas mehr als einem Monat herrschte, sprießt es mittlerweile aus allen Ecken und Enden. Bunte Blumen blühen, Gartenkräuter duften, in abgefahrenen Autoreifen, in Kisten und in Töpfen eingepflanzt. Erdbeeren gedeihen in alten Pantoffeln, die an einem Regal hängen, daneben wachsen Topftomaten aus einem ausgedienten Kessel. Angelegt hat den Stadtgarten die Kräuterexpertin und Streuobstpädagogin Alexandra Rau aus Bergfelden auf Anregung von Hans-Ulrich Händel, bei der Stadt für Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung zuständig (die SÜDWEST PRESSE berichtete am 2. Juni).

Rau war von der „Urban Gardening“-Idee sehr angetan und packte gleich an. Die Bergfelderin besorgte Dinge, die eigentlich für den Sperrmüll gedacht waren, als Behältnisse zum Einpflanzen.

Fast von der ersten Minute an dabei ist Sabine Ludi. Dies ist umso ungewöhnlicher, denn die 52-Jährige ist von Geburt an blind. Das aber hinderte Ludi nicht daran, bei der Entstehung des als inklusives Projekt gedachten Stadtgartens kräftig mitzuhelfen. „Ich habe sie an eine große Kiste geführt und die verschiedenen Kräuter hingestellt – nach zwei Stunden hatte sie die Kiste bepflanzt“, erzählt Alexandra Rau. „Mittlerweile weiß ich auch, wo die Holzkisten stehen und die Reifen mit den unterschiedlichen Kräutern. Ich weiß, dass der Garten länglich und schmal ist. Das habe ich daran gemerkt wie es hier hallt“, erinnert sich die 52-Jährige an den ersten Besuch in dem kleinen Areal zwischen den Häusern in der Brühlstraße genau gegenüber der Kölreuterstraße.

Für Sabine Ludi, die mit Ehemann Jürgen auf der Schillerhöhe wohnt, ist der vor gut vier Wochen angelegte Stadtgarten eine Oase der Sinne. Beim wöchentlichen Treffen diese Woche führte Alexandra Rau die blinde Frau an ein Holzregal mit ein paar alte Schuhen und Pantoffeln. Aus beiden hängen Erdbeerpflanzen heraus. An der Schmalseite des Regals hängt ein ausgedienter Kessel, aus dem Topftomaten herausquellen. Vorsichtig tastet Sabine Ludi die noch grünen Früchte und die Tomatenblätter ab, gleitet dann mit den Händen ein bisschen tiefer in Richtung Pantoffel. Die Nicht-Sehende nimmt ein Erdbeerblatt und reibt es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger: „Ich fühle, ich taste, ich schmecke. Reibt man an den Erdbeerblättern, duftet es nach Erdbeeren“, sagte Ludi und schmunzelte ein bisschen, weil ihr Nicht-Blinde sagen, dass sie so etwas nicht riechen. „Ich bin von Geburt an blind, aber meine anderen Sinne sind sehr ausgeprägt. Ich sehe weder hell noch dunkel, und ich sehe auch keine Farben. Das ist sehr schade, denn ich würde zum Beispiel gern mal wissen, wie Rot aussieht“, sagt Ludi, die am Dienstag eine rote Bluse trägt.

Trotz ihrer Einschränkung ist die 52-Jährige, mit Unterstützung ihres Mannes, der mehr als 20 Jahre beim Fernmeldeamt in Rottweil gearbeitet hat, sehr aktiv. „Ich habe viele Ehrenämter“, erzählte Sabine Ludi sie mit einem gewissen Stolz und verweist auf ihre neueste Umtriebigkeit. „Zum Beispiel machen wir gerade auf Skype eine Aktion für die Stiftung Sankt Franziskus in Heiligenbronn. Wegen Corona dürfen die Menschen ja derzeit nicht in die Werkstätten und sitzen zu Hause in den Wohngruppen. Über Skype musizieren wir, lesen vor oder spielen etwas.

Weitere Helfer willkommen

Alexandra Rau hat vor drei Wochen, als es tagelang regnete, einen Pavillon aufgestellt, der am Dienstag auch gute Dienste als Schattenspender leistete. Es gab Kaffee, Tee und Säfte, dazu selbstgebackenen Kuchen. Eine Frau aus der Türkei hatte zum jüngsten Treffen leckeres Kakaogebäck mitgebracht. Es wurde geplaudert und gelacht, zwei kleine Mädchen hatten ihren Spaß – und alle freuten sich schon auf den nächsten Dienstag. „Vielleicht sind da auch die Erdbeeren und Tomaten schon rot – auch wenn ich es nicht sehen kann“, sagte Sabine Ludi.
Sabine Ludi erkennt Erdbeeren durch Reiben an den Blättern.

Sabine Ludi erkennt Erdbeeren durch Reiben an den Blättern.

Zum Artikel

Erstellt:
25.06.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 59sec
zuletzt aktualisiert: 25.06.2020, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!