Interview mit Bergsteiger Reinhold Messner

Der Gipfel ist nur der Umkehrpunkt

Reinhold Messner spricht über Dekadenz, Heimat, Alpintourismus. Im November kommt er nach Tübingen.

03.11.2016

Von Lorenzo Zimmer

Reinhold Messner erreichte am 27. Juni 1970 mit seinem Bruder Günther den Gipfel des Nanga Parbat. Sie hatten die Route über die 4500 Meter hohe legendäre Rupalwand gewählt und als erste bezwungen. Beim Abstieg kam Günther Messner ums Leben. Bild: Reinhold Messner

Reinhold Messner erreichte am 27. Juni 1970 mit seinem Bruder Günther den Gipfel des Nanga Parbat. Sie hatten die Route über die 4500 Meter hohe legendäre Rupalwand gewählt und als erste bezwungen. Beim Abstieg kam Günther Messner ums Leben. Bild: Reinhold Messner

Todesmut, Heldenruhm, Geschichten von übermenschlichen Wesen: Zutaten für Sagen und Mythen. Und wesentliche Aspekte im bewegten Leben von Reinhold Messner. Der gebürtige Südtiroler gilt als Godfather des Extrembergsteigens und Experte für den sagenumwobenen Yeti. Er erklomm als erster Mensch alle Achttausender der Erde, verzichtete in schwindelerregenden Höhen auf Pressluftflaschen, durchquerte Wüsten zu Fuß, verlor treue Begleiter. Heute ist er 72 Jahre alt, aber keineswegs Rentner: Messner gründet Museen, schreibt Bücher, hält Vorträge und versucht mit seiner Arbeit, die von ihm geliebte Natur zu schützen. Denn er sieht sie zunehmend in Gefahr.

TAGBLATT: Herr Messner, was macht für Sie den Reiz der Berge aus?

Reinhold Messner: Die Möglichkeit zu erfahren, wie ich eigentlich ticke. Was mich als Mensch ausmacht. Es ist die Begegnung der menschlichen Natur mit der Bergnatur. Letztere kann sehr bedrohlich wirken: hoch, groß, kalt, gefährlich. Lawinen, Steinschläge, solche Dinge.

Klingt nicht sehr einladend...

Stimmt. Aber wenn ich mich diesen Gefahren aussetze, passiert in mir etwas. An diesen Orten bin ich mein eigener Beobachter, der Schiedsrichter. Ich entscheide, wo ich hingehe und wer mich begleitet.

Und warum sehen Sie das in Gefahr?

Was heute an vielen Gipfeln gemacht wird, ist kein Bergsteigen, sondern Tourismus. Man muss es ja so sehen: Der Berg trägt in sich die Elemente, um die Menschen ein bisschen von sich fernzuhalten. Deswegen sollte man dringend damit aufhören, immer mehr Infrastruktur zu platzieren, um diese Elemente zu überwinden.

Wird das denn gemacht?

Alle paar Jahre wird am Everest eine neue Piste gebaut, auf der hunderte Leute hochgebracht werden. Für die ist das ein rein optisches Erlebnis, oben zu sein. Aber wo beginnt dann der Alpinismus, wenn der Tourismus schon den höchsten Punkt der Erde erobert hat?

Was schlagen Sie also vor?

Wir brauchen neue Regeln zur Erschließung von Naturräumen. Das gilt auch für den Ski-Tourismus. Wir können bestehende Infrastruktur nicht abreißen, weil da Arbeitsplätze dranhängen. Aber wir sollten uns schon fragen, ob wir immer mehr Infrastruktur in der Natur schaffen, damit wirklich jeder überall hin kann. Und wenn er eben nicht mehr kann, ruft er den Helikopter. Da wird eine Pseudosicherheit kreiert, die Leben riskiert und Natur zerstört.

Warum ist denn die Reduktion der Mittel, das Erreichen des Gipfels aus eigener Kraft, so wichtig für Sie?

Der Alpinismus hatte sehr unterschiedliche Phasen. Zu Beginn wollte man die geographischen Höhepunkte der Welt im kolonialistischen Sinne erobern. Im – wie ich es nenne – Schwierigkeitsalpinismus suchte man dann zunehmend herausfordernde Wege, bis man beim Verzichtsalpinismus ankommt.

Was ist Verzichtsalpinismus?

Er basiert auf der Reduktion der Mittel. Ohne diese Reduktion sind die Berge kaum noch eine Herausforderung. Dann wird die Begegnung mit ihnen und ihrer Natur überflüssig.

Was haben Sie bei Ihren Begegnungen mit der Natur gesucht?

Viele Menschen glauben, dass man angekommen ist, wenn man den Gipfel erreicht hat. Dabei ist er nur der Umkehrpunkt. Vorher geht es aufwärts und nachher eben abwärts. Aber das Wesentliche ist immer die Rückkehr.

Was löst sie aus?

Sie ist wie eine Wiedergeburt. Man hat das Gefühl, das eigene Leben selbstständig gerettet zu haben. Vielleicht, um es bei nächster Gelegenheit wieder in die Waagschale zu werfen.

Ist das nicht irgendwo dekadent?

Und wie! Es ist dekadent und völlig absurd. Aber das macht auch das Flair solcher Abenteuer aus. Die Geschichten darüber machen den Menschen bewusst, dass ihr Leben genauso absurd ist wie meins.

Wo sehen Sie Ihre Heimat?

Das ist der Platz, wo meine Familie ist. Es ist nicht so, dass ich – wie viele vielleicht vermuten – die Heimeligkeit der Hinterwelt suche: irgendwo abgeschieden im Idyll. Meine Heimat ist ein sicherer Ort, von wo aus ich die Globalisierung und die Entwicklung der Menschheit gut beobachten kann. Eben mit meiner Familie.

Reinhold Messner. Bild: Reinhold Messner

Reinhold Messner. Bild: Reinhold Messner

Reinhold Messner kommt nach Tübingen

Wie Überleben funktioniert, hat Reinhold Messner immer wieder ausprobiert – vor allem unter extremen Bedingungen. Sein neues Live-Programm trägt den Titel „Über Leben“. Am Dienstag, 15. November, spricht er ab 20 Uhr in der Hermann-Hepper-Halle über Mut, Leidenschaft und Verantwortung. Über die Essenz seiner Lebenserfahrung als Bergsteiger und Pionier. Über Ehrgeiz und Scham, Alpträume und das Altern, über Neuanfänge und die Fähigkeit, am Ende loszulassen. Er sucht Antworten auf Fragen wie: Wie riecht Heimat oder wie viel Freiraum brauchen wir?