Seelisch krank zur Tatzeit

Der Gutachter diagnostiziert dem mutmaßlichen Klinik-Schützen eine schizophrene Störung

Am Tübinger Landgericht läuft das Verfahren gegen einen 22-jährigen Öschinger. Im November soll er auf zwei Polizisten geschossen haben. Nach Ansicht des psychiatrischen Gutachters ist er schizophren.

26.04.2016

Von Kathrin Löffler

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

Tübingen / Öschingen. Ein Patient der Medizinischen Klinik Tübingen entfernt sich Leibchen und Katheter. Nackt rennt er in ein Schwesternwohnheim. Zwei Polizeibeamte wollen ihn in Gewahrsam nehmen. Der Mann wehrt sich, entreißt einem von beiden die Dienstwaffe, drückt ab. Ein Schuss trifft das Reservemagazin der Polizistin, ein zweiter streift ihren Kollegen.

So hat es sich laut Zeugenaussagen am 4. November 2015 zugetragen. Die Staatswanwaltschaft meint: Das ist versuchter Mord. Sie will den aus Öschingen stammenden mutmaßlichen Täter aber nicht im Gefängnis, sondern dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sehen. Am gestrigen vierten Prozesstag bestätigte der ärztliche Sachverständige Peter Winckler eine solche Notwendigkeit. Er hält den jungen Mann für krankhaft seelisch gestört.

Der Psychiater beschrieb den Gesundheitszustand des Öschingers als Abwärtsspirale. Die drehte sich bereits im Kindesalter. Der heute 22-Jährige ist nicht das leibliche Kind seiner Eltern. Laut Winckler kann Adoption ein Risiko für Traumata bergen. „Da kann die Adoptivfamilie noch so gut funktionieren und sozial intakt sein.“ Der angenommene Sohn quälte Tiere, zeigte weder Schuldbewusstsein noch Mitgefühl, dafür eine geringe Frustrationstoleranz. Er saß mehrmals in Haft, zum ersten Mal im Alter von 15 Jahren, er demolierte mehrere Wohnungen. Zuletzt musste er sich vor dem Amtsgericht verantworten, weil er vor seiner 74-jährigen Nachbarin sein Geschlechtsteil entblößt hatte. Winckler nennt das „Problembiografie“. Noch problematischer machte es der frühe Griff zu Suchtmitteln. Als Fünfjähriger habe der Beschuldigte an seiner ersten Zigarette gezogen, mit elf Alkohol getrunken, im vergangenen Jahr hatte er Amphetamine und Cannabisspuren im Blut. Peter Winckler vermutet: Der Drogenkonsum ist nicht Ursache für die Psychose des jungen Manns. Eher haben sie den Ausbruch seiner Schizophrenie und ihre Schwere befördert.

Die Krankheit äußerte sich in Wahnvorstellungen und Verlust des Realitätsbezugs. So glaubte der Betroffene etwa: IS-Schergen haben seine Eltern eingesperrt und durch Doppelgänger ersetzt, seine eigenen Körperteile bestehen aus Metallspänen statt Knochen, er selbst ist ein Außerirdischer. Zwei Tage vor der Schießerei in der Klinik war er in ein Mössinger Wohnhaus eingedrungen und hatte eine Weinkiste gestohlen – die er für eine „Kiste aus Atlantis mit heiligen Steinen“ hielt.

Auf Richter Ulrich Polachowski macht dies nicht den Eindruck „von einem normalen Einbruch, der auf Wertgegenstände zielt“. Psychiater Winckler meint: Der Einbruch lässt sich als Symptom der Paranoia werten. Damit wäre der 22-Jährige ohne Schuld.

Komplizierter sieht es bei den Schüssen in Richtung der beiden Polizisten aus. Hier gibt es keine Hinweise, dass der mutmaßliche Schütze die Polizisten nicht als Polizisten erkannt hat. Peter Winckler scheint eine nur verminderte Schuldfähigkeit bei diesem Delikt naheliegender.

Benjamin Ogrzewalla vertritt die Nebenklägerin: jene Polizistin, auf deren Kopf der Öschinger mit der Pistole gezielt haben soll. Der Anwalt formulierte eine deutlich zugespitzere Sicht auf die Tatvorwürfe: „Ich glaube, dass er sich in der Rolle als möglicher Polizistenmörder gefällt.“ Indiz für Ogrzewalla ist, dass der Öschinger sich im laufenden Verfahren nicht bei der Polizistin entschuldigen wollte. Er sei bei seiner vermeintlichen Tat nämlich nicht bei Bewusstsein gewesen, hieß sinngemäß dessen Begründung. Geäußert hatte er die in etwas wirrer Rhetorik.

Laut Winckler liegt das an der formalen Denkstörung des jungen Mannes: Er kann Sprache bisweilen nicht in logischen Zusammenhängen einsetzen. Der Arzt stellte ihm eine „ungünstige Prognose“ – und befand: „Was für ein Glück, dass es am 4. November in der Medizinischen Klinik kein Blutbad gegeben hat.“

Vorsitz: Richter Ulrich Polachowski; Beisitzer: Christoph Sandberger, Johannes Munding; Schöffen: Klaus Bucher, Ralf Glaunsinger; Staatsanwalt: Ingo Schumann; Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs; Vertreter der Nebenklage: Benjamin Ogrzewalla; Gutachter: Peter Winckler