Der gefährliche Patient

Der Mann, der in der Tübinger Uniklinik auf Polizisten schoss, ist nicht schuldfähig

Ein 22-Jähriger aus Öschingen hat in der Uniklinik auf zwei Polizisten geschossen. Das Landgericht hält ihn für schuldunfähig: Er muss in die Psychiatrie. In seinem Urteil kritisierte Richter Ulrich Polachowski auch das Vorgehen von Polizei und Krankenhaus im Vorfeld der Tat.

26.04.2016

Von Kathrin Löffler

Der Mann, der in der Tübinger Uniklinik auf Polizisten schoss, ist nicht schuldfähig

Tübingen/Öschingen. Staatsanwalt, Verteidiger, Richter: Beim gestrigen Verfahrensabschluss waren sich letztlich nahezu alle einig. Der junge Mann, dessen Fall das Tübinger Landgericht fünf Prozesstage lang beschäftigte, ist gefährlich für sich selbst und andere. Er kommt wegen seiner Taten nicht ins Gefängnis, sondern wird in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt.

Und die Taten, die die Richter für erwiesen halten, waren zahlreich: Am 2. November 2015 brach er in ein Mössinger Wohnhaus ein und stahl eine Weinkiste. Mit dieser betrat er das Haus seiner Eltern in Öschingen – unerlaubt. Die Familie hatte im Vorfeld ein Annäherungsverbot gegen den gewalttätigen und seit dem Jugendalter mehrfach inhaftierten Sohn durchgesetzt. Die Polizei kam, er wehrte sich eine Stunde lang, schmiss mit Steinen, wurde erst in die Nervenklinik gebracht, dann wegen Verdachts auf Nierenversagen am 4. November in die medizinische Klinik verlegt. Dort entfernte er sich Katheter und Kleidung und flüchtete nackt in ein Wohnheim. Zwei dazu gerufene Streifenbeamte wollten ihn zurückbringen. Der Mann sträubte sich massiv, ein Kampfgetümmel entstand. Der Geflüchtete bekam laut Gericht die Dienstpistole eines Polizisten zu fassen, zielte auf den Kopf von dessen Kollegin und drückte ab. Die Polizeihauptmeisterin konnte sich wegducken. Der Mann feuerte die Waffe ein zweites Mal ab, dieser Schuss streifte den Oberschenkel des Streifenbeamten.

Für das Landgericht ist das unter anderem: Einbruch, Diebstahl, Körperverletzung, versuchter Totschlag. Für Richter und Schöffen steht aber auch fest: Der Beschuldigte befand sich bei allen Taten in einem psychotischen Zustand – und handelte ohne Schuld.

Seine Eltern haben ihren Sohn als Säugling mit bosnischer Herkunft adoptiert. Verhaltensauffällig wurde er früh: Er quälte Haustiere, musste zum Kindertherapeuten, saß mit 15 erstmals in Haft, demolierte Wohnungen, nahm Drogen, in Schulen und Wohngruppen klappte es nicht. Seit dem vergangenen Jahr beobachtete sein Umfeld zunehmend Wahnvorstellungen bei dem jungen Mann. Zur Tatzeit soll er seine Eltern nicht erkannt und für Doppelgänger gehalten haben, die der Islamische Staat ausgetauscht habe. Und die gestohlene Weinkiste war in seinen Augen nicht einfach nur eine Weinkiste: sondern eine Kiste aus Atlantis mit magischer Wirkung.

Der psychiatrische Gutachter Peter Winckler hatte bei dem Beschuldigten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine schizophrene Psychose diagnostiziert. Einbruch, Flucht und Schüsse auf die Polizisten verübte der junge Mann demnach infolge seines krankhaften Zustands.

Einzig Benjamin Ogrzewalla wollte dem nicht folgen. Der Anwalt vertrat die Nebenkläger: jene beiden Polizisten, auf die der Mann in der medizinischen Klinik geschossen hatte. Er ist der Ansicht, dass der Beschuldigte in der eskalierenden Situation „sehr wohl wusste, was er macht“. Indiz für ihn sind die Beleidigungen, mit denen der Mann die nach der Schießerei eintreffende zweite Streifenbesatzung beschimpfte: Dabei habe es sich um „die ganz normale Klaviatur der Standardbeleidigungen“ gegen Polizisten gehandelt – und nicht um Äußerungen, die ein paranoides Verkennen seiner Gegenüber vermuten ließen. „Das hat für mich nichts Psychotisches“, sagte Ogrzewalla. Er plädierte für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes.

Richter Ulrich Polachowski sah das anders. „Wir sind davon überzeugt, dass sich in der medizinischen Klinik nicht auf einmal heilende Hände auf ihn gelegt haben. Er hat seine Erkrankung mit in die Klinik genommen.“ Polachowski bemerkte aber, dass der Beschuldigte sich im Verlauf des Verfahrens nicht hinter seiner Krankheit versteckt und so seine Taten heruntergespielt habe. Was das Gericht über dessen Wahnvorstellungen erfahren habe, beruhe auf den Beobachtungen von Zeugen. Hans-Christoph Geprägs versuchte gestern, das weitgehende Schweigen seines Mandanten zu erklären – und dessen Weigerung, sich bei den Polizisten zu entschuldigen. „Nicht, weil er es nicht will, setzt er sich nicht mit dem Tatvorwurf auseinander, sondern weil er es nicht kann.“

Mit seinem Urteil äußerte Richter Polachowski auch Kritik am Organisationsapparat von Krankenhaus und Polizei. „Wenn man zurückblickt, versteht man nicht, wieso die Polizistin in der Klinik in den Pistolenlauf blickt.“ Für ihn hat der Informationsfluss sowohl zwischen den Kliniken als auch bei der Polizei versagt: Die Nervenklinik hätte der medizinischen Klinik signalisieren müssen, dass dort ein hochgradig gefährlicher Patient ankomme, der an Armen und Beinen zu fixieren sei. Der medizinischen Klinik habe diese Information gefehlt. Hätten die Ärzte ihm dort nicht nur einen Bauchgurt angelegt, hätte der spätere Schütze nicht weglaufen können, so Polachowski.

Außerdem hätte die Einsatzzentrale der Polizei seiner Ansicht nach die zwei Streifenbeamten warnen müssen, dass vier andere Polizisten am Vortag den Geflohenen eine Stunde lang nicht bändigen konnten – und ihnen antragen, auf Verstärkung zu warten. Polachowski: „Es macht mich betroffen, dass Polizisten in manchen Situationen schutzlos gelassen werden, obwohl es andere Möglichkeiten gegeben hätte.“

Vorsitz: Richter Ulrich Polachowski; Beisitzer: Christoph Sandberger, Johannes Munding; Schöffen: Klaus Bucher, Ralf Glaunsinger; Staatsanwalt: Ingo Schumann; Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs; Vertreter der Nebenklage: Benjamin Ogrzewalla.