Sulz · Corona

Der direkte Kontakt fehlt allen

Wie Menschen mit Demenz, Blinde und Taubblinde in der Krise besonders leiden, schilderten Betroffene und Angehörige in einer Video-Konferenz. Die Sulzer Projektgruppe „Soziale Teilhabe“ will unter anderem eine Telefonkette initiieren.

28.04.2020

Von Cristina Priotto

Unter den 15 Teilnehmern einer Online-Videokonferenz zum Thema soziale Teilhabe in der Corona-Krise am Dienstagabend waren unter anderem (von links oben im Uhrzeigersinn): Ute Hauser (Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg), Amir Mohammadi, der die Sitzung aufzeichnete, Ben Gutwein (Taubblinder von der Stiftung Sankt Fraziskus Heiligenbronn) und Gerold Knispel (Angehöriger einer anDemenz erkrankten Mutter aus Sulz). Bild: Cristina Priotto

Unter den 15 Teilnehmern einer Online-Videokonferenz zum Thema soziale Teilhabe in der Corona-Krise am Dienstagabend waren unter anderem (von links oben im Uhrzeigersinn): Ute Hauser (Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg), Amir Mohammadi, der die Sitzung aufzeichnete, Ben Gutwein (Taubblinder von der Stiftung Sankt Fraziskus Heiligenbronn) und Gerold Knispel (Angehöriger einer an Demenz erkrankten Mutter aus Sulz). Bild: Cristina Priotto

Die Projektgruppe „Soziale Teilhabe“ hat sich im Rahmen der „Sulzer Engagement-Strategie“ mit den besonderen Schwierigkeiten von älteren Menschen und Leuten mit Handicap befasst. In einem virtuellen Pressegespräch schilderten einige Betroffene und Angehörige am gestrigen Dienstagabend, welche besonderen Herausforderungen die Corona-Krise für Gehandicapte mit sich bringt und versuchten gemeinsam, mögliche Lösungsansätze zu finden.

Silvia Gmelin vom kreisweiten Inklusionsprojekt „GIEB“ wies darauf hin, dass die Kontaktsperre gerade für Menschen, die auch sonst nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen, noch stärker die Gefahr berge, ins Abseits zu geraten. „Wir wollen solchen Leuten eine Stimme geben“, beschrieb Gmelin die Intention des Austauschs gestern über das Video-Konferenz-Tool „Zoom“.

Gerold Knispel zeigte als Sohn einer dementen Mutter, die seit drei Jahren in einem Pflegeheim lebt, die Sorgen aus der Sicht der Angehörigen auf. „Durch das Besuchsverbot in Pflegeheimen hat mein Vater nach 66 Ehejahren jetzt keine Möglichkeit mehr, seine Frau zu sehen“, schilderte Knispel die emotionalen und sozialen Nöte eines älteren Mannes. Für die Kinder sei es ebenfalls nur schwer erträglich, mit der Mutter in einer geschlossenen Demenz-Abteilung keinen Kontakt aufnehmen zu können. Wegen der fortgeschrittenen Erkrankung funktioniere telefonieren oder videotelefonieren nicht, der einzig mögliche Austausch wäre, die Seniorin in den Arm zu nehmen und gemeinsam Lieder zu singen.

Doch wegen der Kontaktsperre bleibt den Angehörigen dies verwehrt. „Wir wissen uns nicht mehr zu helfen“, machte der verzweifelte Sohn deutlich. Die Einrichtung habe der Familie kürzlich mitgeteilt, dass es der Ehefrau und Mutter gesundheitlich gut gehe. Knispel echauffierte sich: „Es kann doch nicht der Status bleiben, dass Leute in Heimen hermetisch von Angehörigen abgeriegelt sind“ und wünscht sich eine Lockerung des Corona-Besuchsverbot zumindest für eine Bezugsperson aus der Familie Dementer.

Ute Hauser zeigte sich betroffen von Gerold Knispels Schilderung und bestätigte: „Demente sind ohnehin verunsichert, durch die vielen Einschränkungen, das Kontaktverbot und den Mundschutz noch viel mehr“. Wegen der Mund-Nasen-Abdeckungen entfalle die Mimik, durch das Kontaktverbot sei es nicht möglich, Menschen mit Demenz in den Arm zu nehmen. „Wir können nicht so mit den Leuten kommunizieren, wie sie es bräuchten“, stellte die Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg fest. Hauser empfahl Heimen Besucherhäuschen mit Plexiglas-Trennscheibe, Video-Telefonate, Briefkontakte zu Kindern oder Musikangebote sowie Gottesdienste im Innenhof, die Heimbewohner auch vom Fenster aus verfolgen können.

Matthias Kohlhase vom Kreisseniorenrat setzt sich für die Anliegen solcher älterer Menschen ein. „Durch die Isolation Älterer als Risikogruppe fehlen der direkte Kontakt zu Menschen und Unterhaltungen“, weiß Kohlhase. Gerade für ältere Menschen sei die Ungewissheit belastend, wie es weitergehe. Zudem wies der Vorsitzende des Kreisseniorenrats Rottweil auf eine damit einhergehende gesundheitliche Gefahr hin: „Wir Älteren sagen Arzttermine aus Angst vor einer Corona-Infektion ab und bringen uns dadurch in Gefahr“, verdeutlichte der Schramberger. Von Jüngeren wünscht Kohlhase sich, behutsam auf Senioren zuzugehen, Hilfe anzubieten und deren Annahme als etwas Positives darzustellen.

Wie Blinde sich gegenseitig unterstützen, beschrieb Sabine Ludi. Die Wahl-Sulzerin ist von Geburt an blind und engagiert sich bei der Stiftung Sankt Franziskus in Heiligenbronn in der Telefonkette „Telefonieren gegen die Einsamkeit“. „Ich schenke einigen Menschen Zeit, höre zu oder lese etwas vor“. Dies könnten auch Nicht-Sehende, ließ Ludi die beeindruckten Konferenzteilnehmer staunen.

Da direkte Treffen wegen Corona derzeit nicht möglich sind, hat Sabine Ludi zudem für Heiligenbronner Wohngruppen eine Skype-Gruppe für Menschen eröffnet, die gerne lesen oder gemeinsam singen und musizieren.

Trotz Mehrfachbehinderung ebenfalls für Gleichgesinnte aktiv im Einsatz ist auch Ben Gutwein. Als Taubblinder engagiert der Balinger sich bei der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). „Die Isolation bei Taubblinden ist sehr ausgeprägt“, berichtete der Balinger, der als Gebärdensprachdozent arbeitet, mit Hilfe zweier Dolmetscherinnen.

Zur Unterstützung im Alltag benötigen taubblinde Menschen einen Assistenten, doch landesweit gibt es nur zehn davon. Als konkretes Beispiel, was Nicht-Sehende und Nicht-Hörende in der Corona-Krise nicht ohne fremde Hilfe bewerkstelligen können, nannte Gutwein die Beschaffung von Schutzkleidung. „Es gibt jetzt sehr viele Barrieren, wie zehn Mauern hintereinander“, fasste Ben Gutwein die Situation Taubblinder zusammen. Von der Maskenpflicht befreit werden wollten Betroffene nicht, aber es helfe, wenn das Gegenüber zur Kommunikation die Maske herunterziehe.

In der Abschlussrunde stellte Silvia Gmelin fest, dass viele verschiedene Personen von denselben Problemen, besonders vom Kontaktverbot, betroffen sind.

Die Stadt Sulz leistet durch den Verkauf der „Sulzer Mauldäschle“, Mund-Nasen-Masken aus der Nähwerkstatt, einen Beitrag zur Inklusion, berichtete Moderator Hans-Ulrich Händel, Beauftragter für Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung. Ein Euro pro verkaufter Maske kommt Projekten für Menschen mit Behinderung oder Demenz zu Gute. Über 500 Stück wurden bislang verkauft, wobei die Nachfrage in der ersten Woche deutlich höher gewesen se als diese Woche, berichtete Barbara Hägele, eine der ehrenamtlichen „Mauldäschle“-Näherinnen aus der Nähwerkstatt.

Seitens der Diakonischen Bezirksstelle kündigte Sabrina Haller eine Telefonkette gegen Einsamkeit an. „Das wird eine Art Seelsorge über das Telefon“, erklärte die Geschäftsführerin der Diakonischen Bezirksstelle Sulz. Mit diesem „alten“ Kommunikationsmedium könnten auch hochbetagte Senioren umgehen, befürwortete Gerold Knispel diese Idee.

Doch was kann jeder Einzelne in der Corona-Krise für Randgruppen tun? Ute Hauser empfahl, die Augen für Menschen in der näheren Umgebung offenzuhalten. „Man kann so viele kleine Dinge tun“, wusste die Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg. Birgit Stiehle bestätigte aus Gesprächen mit Kunden: „Ältere wissen Hilfe von außen zu schätzen.“

Die Porjektgruppe „Soziale Teilhabe“ möchte die besonderen Anliegen von Menschen mit Behinderung auch nach Corona stärker in den Fokus rücken.