Wege aus der Frustration

Der eine bombt, die andere schreibt: Werkschau-Gast Philippe Faucon bei den Französischen Filmtagen

In 80 Minuten vom Abiturienten zum Selbstmordattentäter. Und in 80 Minuten von einer ungebildeten, sozial isolierten Immigrantin zu einer Frau, die zuversichtlich in die Zukunft blickt. In den letzten beiden Filmen von Philippe Faucon, dem Werkschau-Gast der Französischen Filmtage, ziehen arabische Einwanderer in Frankreich vollkommen unterschiedliche Konsequenzen aus ihrer Misere.

09.11.2015

Von Klaus-Peter Eichele

"La désintegration".

"La désintegration".

Faucon selbst hat zwar keine arabischen Wurzeln; das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, ist ihm aber nicht fremd. Als Kind siedelte er mit seiner Famile aus Nordafrika nach Frankreich über, wo den Neuankömmlingen viel Misstrauen entgegenschlug. "Meine Mutter, die ursprünglich aus Spanien stammt, hat sich ihr Leben lang in Frankreich nicht heimisch gefühlt", sagt er im Interview. Dieser familiäre Hintergrund habe ihn vermutlich sensibel gemacht für die Erfahrungen späterer Einwanderer. Obwohl sich ein Großteil seiner Filme damit befasst, versteht sich Faucon aber nicht als Chronist arabischen Lebens in Frankreich. "Ich beobachte, was in meinem Umfeld passiert und entwickle daraus Geschichten - mehr nicht".

Zu seinem Film "La désintegration" bewogen ihn allerdings eher Recherchen im Internet. Dort stieß er auf so viel Hass junger Moslems gegenüber Frankreich, dass er das Gefühl nicht los wurde, etwas Schlimmes liege in der Luft. So kam ihm - vier Jahre vor dem Terroranschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" - die Idee zum Film "La désintegration". Das Drama erzählt von einem jungen Araber aus einer Vorstadt von Lille, der nach ordentlich absolvierter Schule trotz Dutzender Bewerbungen keine Anstellung findet. Nicht zu Unrecht vermutet er, seine Herkunft sei daran schuld. Seine Enttäuschung steigert sich unter dem Einfluss eines islamistischen Ideologen ("Die Ungläubigen wollen dich ganz unten halten") zum Hass auf Frankreich. Obwohl er mit Religion bis dahin nichts am Hut hatte, wird er Mitglied einer islamistischen Zelle, die einen Terroranschlag plant.

Philippe Faucon.

Philippe Faucon.

Als der Film 2012 in die Kinos kam, so Faucon, wurde er von vielen Kritikern als Schwarzmalerei abgetan. Wenige Wochen später begann mit den Attentaten auf Soldaten und eine jüdische Schule bei Toulouse die Serie islamistischen Terrors in Frankreich. Als Prophet will sich der Regisseur trotzdem nicht gerieren: "Die Heftigkeit und die Häufigkeit dieser Anschläge konnte niemand vorausahnen." Für seinen nächsten Film ließ er sich von einem französischen Sprichwort inspirieren: Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm, als ein Wald, der wächst. "Diesmal wollte ich vom wachsenden Wald erzählen". Personifiziert wird er von der arabischen Titelheldin Fatima, die zunächst die personifizierte Parallelgesellschaft ist. Die geschiedene Mutter spricht nur gebrochen französisch, hat kaum Kontakt zu eingeborenen Franzosen - und wenn doch, bekommt sie oft sublime Verachtung zu spüren. Um ihren zwei assimilierten Töchtern - die eine geht an die Uni, die andere hat gerade ihre rebellische Phase - ein besseres Leben zu ermöglichen, schuftet sie sich als Putzfrau krumm und bucklig - allerdings wird die Kluft zwischen ihrer und der Lebenswelt der Kinder immer größer. Um die Barriere zu überwinden, beginnt sie damit, von ihren Erfahrungen und Empfindungen vor sich selbst und ihren Töchtern Zeugnis abzulegen: mit Gedichten in arabischer Sprache.

"Fatima".

"Fatima".

Die Geschichte Fatimas beruht auf einem autobiografischen Bericht, ist laut Faucon aber kein Einzelfall: "Ich habe inzwischen viele Frauen aus Einwanderer-Familien kennengelernt, die ihre Sprachlosigkeit durch das Schreiben überwinden." In vielen Banlieus gebe es inzwischen schon entsprechende Workshops. "Fatima" kam vor vier Wochen in die französischen Kinos und hat schon mehr als 200000 Zuschauer erreicht. Manche Kinos zeigen ihn zusammen mit "La désintegration", was nach Faucons Ansicht viel Sinn ergibt: "Die beiden Filme zeigen, dass man ganz unterschiedlich mit sozialer Frustration, die unter arabischstämmigen Franzosen weithin herrscht, umgehen kann." Beide zeigen aber auch deutlich die Defizite bei der Integration in Frankreich; die immer noch virulente Diskriminierung, die vor allem bei jungen Männern, die leicht manipulierbar sind, in Hass und Gewalt umschlagen kann.

Und was kann Deutschland mit seinen vielen arabischen Neubürgern daraus lernen? Der Geschichtenerzähler Faucon tut sich sichtlich schwer, den Politikberater zu mimen, aber: "Wenn die Kinder der Einwanderer den Eindruck haben, dass ihre Eltern nur als Arbeitskräfte ausgenutzt werden, aber nicht als Menschen willkommen sind - dann wird Deutschland in 20 Jahren die gleichen Probleme haben wie Frankreich heute."

Info:"La désintegration" läuft nur in der Filmtage-Außenstelle Stuttgart: im Anschluss an einen Vortrag über "Toleranz und Intoleranz" von Felix Heidenreich am Dienstag um 19 Uhr im Institut français (Schlossstraße 51). "Fatima" wird am Montag, 18 Uhr, im Museum gezeigt. Faucon ist anwesend.