Frühchen

Der zerbrechliche Patient

Um einen realistischen Frühgeborenen-Simulator zu entwickeln, an dem Pfleger und Ärzte Notsituationen trainieren, half sogar ein Experte für Special Effects.

05.01.2017

Von Philipp Koebnik

Mit der Simulator-Puppe „Paul“ können Ärzte und Pflegekräfte beispielsweise die künstliche Beatmung von Frühgeborenen üben. Bilder: SIMCharacters

Mit der Simulator-Puppe „Paul“ können Ärzte und Pflegekräfte beispielsweise die künstliche Beatmung von Frühgeborenen üben. Bilder: SIMCharacters

Er misst 35 Zentimeter und sieht mit seiner zarten rosa Haut beinahe aus wie ein echtes Kind: „Paul“ ist ein Patientensimulator, der einem Frühchen in der 27. Schwangerschaftswoche nachempfunden ist. Angehende Mediziner, aber auch erfahrene Ärzte und Pflegekräfte können mit der realistisch gestalteten Puppe verschiedene Notfall-Szenarien üben – schließlich ist die optimale Behandlung der kleinen Patienten auch für erfahrene medizinische Teams immer wieder eine Herausforderung. Im Oktober hat das Wiener Start-up „SIMCharacters“ den Frühchen-Simulator auf den Markt gebracht. Wir sprachen mit dem Geschäftsführer des Unternehmens. Jens Schwindt, 43, ist Neonatologe und hat 15 Jahre an der Universitäts-Kinderklinik in Wien gearbeitet. Die letzten sechs Jahre war er dort Oberarzt auf der Intensivstation für Frühgeborene.

Herr Schwindt, weshalb braucht es ein realistisches Modell, um den Umgang mit Frühgeborenen zu trainieren? Reicht zum Üben nicht auch eine normale Puppe?

Natürlich können wir auch mit einfach gestalteten Puppen trainieren. Immer wieder passiert es jedoch, dass Teilnehmer in einer Notsituation nicht optimal reagieren und dann sagen: „Das war ja nur eine Puppe, bei einem echten Menschen hätte ich es sicher ganz anders gemacht.“ Diese Sorglosigkeit gilt es zu vermeiden. Je realistischer ein Szenario trainiert werden kann, desto besser kann das Gelernte in einer Notsituation abgerufen werden. So wie Piloten in einem realistischen Flugsimulator üben, so brauchen wir einen realistischen Frühgeborenen-Simulator für unsere Trainings. Immerhin ist ein Frühgeborenes ein ganz zerbrechlicher Patient. Da muss im Ernstfall jeder Handgriff sitzen und ein ganzes Team muss optimal zusammenarbeiten.

Wie sehr ähnelt die Puppe einem echten Frühchen?

Paul sieht aus wie ein echtes Frühgeborenes, für seinen Kopf verwenden wir zum Beispiel Echthaar. Aber nicht nur die äußere, auch die innere Anatomie ist sehr wirklichkeitsnah. Um die Atemwege realistisch nachempfinden zu können, haben wir Kernspintomografie-Bilder von Frühgeborenen ausgewertet, in ein 3D-Modell überführt und dieses in Silikon gegossen. So konnten wir einen hochrealistischen oberen Atemweg nachbilden. Da Frühgeborene besonders Probleme mit der Atmung haben, ist dies für Trainings in der Frühgeborenenmedizin entscheidend. An der Luftröhre sind zudem Sensoren angebracht, die messen, wie tief die Ärzte einen Beatmungsschlauch eingeführt haben.

Kann „Paul“ sich denn auch bewegen, gibt er Geräusche von sich?

Ja, um effektiv trainieren zu können muss ein Simulator sich auch wie ein echtes Kind verhalten. So bewegt Paul beim Atmen den Brustkorb und den Bauch auf und ab. Wenn er angestrengt atmet, wird seine Atmung unregelmäßig und flach. Bekommt Paul zu wenig Sauerstoff, färbt sich seine Haut blau. All dies zeigt dem versorgenden Team, dass er nun Hilfe beim Atmen benötigt. Paul ist mit Hochtechnologie regelrecht „vollgestopft“. Das alles hat viele Jahre der Entwicklung gebraucht.

Und das alles hat vermutlich auch seinen Preis?

Ja, leider. Weil Paul so viel kann, ist er nicht ganz billig. Alle technischen Komponenten mussten miniaturisiert werden, um in einem Frühgeborenen von weniger als einem Kilogramm Gewicht Platz zu finden. Die gesamte Mikroelektronik und Sensoren mussten auf komplizierte Weise in ein dynamisches System integriert werden – die Entwicklung hat seit 2010 viel Kapital verschlungen. Das gesamte Simulationssystem kostet 50000 Euro. Hinzu kommen Kosten für die Wartung. Im Abstand von zwei Jahren kontrollieren wir alle Funktionen des Simulators, tauschen präventiv alle Verschleißteile aus und liefern dem Kunden so wieder einen Paul, der wie neu ist.

Stimmt es, dass ein Experte für Special Effects an der Entwicklung von „Paul“ beteiligt war?

In der Tat. In einem meiner Nachtdienste lief im Hintergrund ein Fernseher mit einer Arztserie. Zufällig sah ich eine Szene mit einem Frühgeborenen. Die Ärzte machten allerdings Dinge mit dem Kind, sodass mir – obwohl dieses Kind unglaublich realistisch aussah – schnell klar war, dass dieses unmöglich echt sein konnte. Ich war sofort begeistert und erkundigte mich deshalb bei der Produktionsfirma. So kam ich in Kontakt mit dem Berliner Special-Effects-Designer Christoph Kunzmann. Er stellte den ersten haptischen Prototypen her. Seine Mitarbeit war für uns wahnsinnig hilfreich. Die Technik haben wir dann in Kooperation mit dem Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien entwickelt.

Wie läuft ein Trainings-Szenario ab?

Mit Paul ist es möglich, unter Realbedingungen zu trainieren, also auch an Plätzen, an denen sonst echte Kinder versorgt werden. Von einem Nebenraum aus wird Paul gesteuert und das medizinische Team wird mit einer Notfallsituation konfrontiert. Das Trainingsszenario wird aus mehreren Kamerapositionen gefilmt, und das Trainerteam kann so mitverfolgen, wie Pflegekräfte und Ärzte Paul versorgen. Ein zweites Team kann in einem Nebenraum das gesamte Trainingsszenario ebenfalls live miterleben. Am Ende jedes Szenarios werden Schlüsselszenen gemeinsam im Team nachbesprochen: Was hat gut funktioniert, was hat mitunter Schwierigkeiten bereitet und was lernen wir daraus für das nächste Mal beim echten Kind?

Wozu dient der Simulator noch?

Es geht in Simulationstrainings nicht nur um die technischen Fertigkeiten. Mindestens ebenso wichtig, vielleicht letztlich sogar noch wichtiger, sind die sogenannten nicht-technischen Fähigkeiten eines Teams. Wie wurden die Aufgaben verteilt? Funktionierte die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen? Wie gut arbeitete das Team in dieser Ausnahmesituation zusammen? Auch dies lässt sich mit Paul in idealer Weise trainieren.

Planen Sie weitere Projekte?

Ja, auf jeden Fall. Als nächstes werden wir einen Neugeborenen-Simulator entwickeln, der einem in der 35. Schwangerschaftswoche geborenen Kind nachempfunden ist.

Jens Schwindt

Jens Schwindt

Zum Artikel

Erstellt:
05.01.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 44sec
zuletzt aktualisiert: 05.01.2017, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!