In einer Kleinstadt wird die Routine des Alltagslebens einer Familie durch eine Katastrophe durcheinandergebracht.

Des plumes dans la tete

In einer Kleinstadt wird die Routine des Alltagslebens einer Familie durch eine Katastrophe durcheinandergebracht.

24.11.2015

Von Festivalinfo

Des plumes dans la tete

Von allmächtiger Höhe fällt der Blick hinab auf ein Spielbrett. Die Straßen und Häuser sind mit Kreide markiert, dazwischen bewegen sich winzig echte Menschen zwischen echten Requisiten. Ein wohlwollender Kommentator führt ein in das karge Dasein der Dorfgemeinschaft von Dogville in den Rocky Mountains. Man ist sofort vertraut mit der Szenerie, alles ist wie bei den Waltons. Dann zoomt die Kamera auf einen der Menschen und siehe da, es ist John-Boy, nur wird er hier als Tom vorgestellt. Die Reden dieses amtierenden Dorfdenkers sind besonnen und salbungsvoll.

Lars von Trier konfrontiert das Publikum in „Dogville? mit einem Setting, das unverschämt unfilmisch ist, eher als Bühnenbild am Theater durchginge. Doch er löst dieses formale Handicap filmisch genial: Was sich in diesem Guckkasten abspielt, filetieren die Handkamera und ein dramatisches Kunstlicht in wuchtige Einzelbilder. Die Wirkung ist zunächst befremdend. Wie im Theater selbst ja auch, braucht es Zeit, bis man sich an diese spröde Kulisse gewöhnt und sich ganz aufs Schauspiel konzentriert. Aber dem Bewusstsein entschlüpft sie nie ganz. Es bleibt die gesamten drei Stunden hindurch sonderbar, wenn Nicole Kidman Pantomime spielt und Türklinken drückt, die gar nicht da sind. Machmal darf Meister Triers Publikum sogar lachen ? wenn es etwa den Hund bellen hört, den es nur als gemalten Kringel gibt, als sei er das Wappentier von Dogville.

Wie im Theater ist die Handlung unterteilt ? nicht in Akte, aber in Kapitel. Grace (Nicole Kidman) ist auf der Flucht vor Gangstern und landet in der Sackgasse Dogville. Die Dorfgemeinschaft gewährt ihr Asyl ? zunächst auf Probe. Denker Tom nimmt sich ihrer nicht ohne unkeusche Hintergedanken an und rät, sich für die Großmut der Bewohner erkenntlich zu zeigen. Erst nehmen die Bürger Garces Hilfsdienste nur zaghaft in Anspruch, doch bald erobert der engelhaft bescheidene Neuling die Herzen. Dann aber flattern Steckbriefe mit ihrem Konterfei ins Dorf, und Dogville bleckt die Zähne: Die Bewohner beginnen, den Flüchtling zu erpressen. Er ist nun jedermans Sklave, weil ihn jeder verpfeifen kann. Brave Bürger werden reißende Hunde. Grace wird ausgebeutet, verhöhnt, vergewaltigt, schließlich in Ketten gelegt und mit einem Glöckchen versehen. Erst mit der allerletzten Stufe des Verrats an ihr kommt die Wende.

Trotz aller Studio-Künstlichkeit fügt sich „Dogville? nahtlos als letzter Teil in von Triers Trilogie über weibliche Märtyrer nach „Breaking the Waves? und „Dancer in the Dark?. Das Modell einer geschlossenen Gesellschaft, deren friedfertige Mitglieder sich als skupellose Peiniger eines Außenseiters entpuppen, ist nicht originell. Wohl aber ist es ihre Darreichungsform zwischen Lehrstück à la Brecht und Parodie. Die Moral am Schluss ist von erlesenem Zynismus: Graces widernatürliche Güte ist so hybrid, dass sie alle demütigt und gegen sich aufbringt. Die Welt ist erst wieder im Lot, als Grace sich mit ihr gemein macht, aufhört, die zweite Wange hinzuhalten, und Rache nimmt an denen, die sich an ihr rächten.

Zum Artikel

Erstellt:
24.11.2015, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 32sec
zuletzt aktualisiert: 24.11.2015, 12:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.