Kommentar über ungeliebte Tübinger Ehrenbürger

Die Latte zum Entzug der Ehrenbürgerschaft hängt tief

Die Ehrenbürgerwürde erlischt mit dem Tod. Eine formale Aberkennung ist unnötig. Mit dem Entzug wird nur die Geschichte reingewaschen, die gar nicht sauber zu kriegen ist. Denn auf der Ehrentafel erscheinen lediglich Unbelastete – als ob Tübingen weißer als weiß durch das brutale NS-System gekommen ist. Geschichtsklitterung.

15.07.2017

Von Manfred Hantke

So argumentieren die Gegner des Ehrenbürgerentzugs. Die Befürworter wollen mit dem symbolischen Akt hingegen deutlich machen, dass sie sich von der NS-Belastung des Geehrten distanzieren. Die Aberkennung sind sie auch den Opfern schuldig, sie dient dem Selbstschutz der Demokratie.

Über ungeliebte Ehrenbürger schwelt seit Jahren in Tübingen ein Streit. 1946 verfügte der Alliierte Kontrollrat, Kriegsverbrechern die Ehrenbürgerwürde zu nehmen. Was aber ist mit „Belasteten“, „Minderbelasteten“ und „Mitläufern“? Wenn sie sich zudem nach dem Zweiten Weltkrieg verdienstvoll um Demokratie und Gemeinwohl gekümmert haben?

Der Tübinger Gemeinderat hat 2013 dem einstigen Tübinger OB Adolf Scheef und dem Philosophie-Professor Theodor Haering die Ehrenbürgerwürde aberkannt. Scheef erhielt die Auszeichnung 1939 von den Nazis, er ist 1944 gestorben. Mitglied der NSDAP war er nicht. Ihm wurde die Ehrenbürgerwürde aberkannt, weil er sie von den Nazis erhalten und er sich um die Ansiedlung von NS-Einrichtungen bemüht hat. Seine Rolle beim Badeverbot für Juden scheint nicht eindeutig geklärt. Fazit: Der Forschungsstand zu Scheef ist dürftig, den Ehrentitel ist er los.

Anders sieht es „im Fall Haering“ aus. Haerings Biografie ist aufgearbeitet. Er hat Hitler und das NS-System unterstützt und gestützt, er war ein überzeugtes Propaganda-Organ der Nazis. 1948 als „Mitläufer“ eingestuft, wurde er 1951 durch Gnadenerweis rehabilitiert. Ehrenbürger wurde er 1957 durch einen demokratisch legitimierten Gemeinderat. In einer Zeit, in der die „Integrationspolitik“ florierte, Ex-Nazis miteinander klüngelten, das Vergessen aktiv betrieben, die Aufarbeitung abgelehnt wurde. Schluss. Strich. Ende.

Wieder anders liegt „der Fall Gmelin“. Hans Gmelin war an der Durchsetzung der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik der Nazis praktisch beteiligt. In seiner OB-Zeit hat er sich laut Eckart Conze zum Demokraten entwickelt. Für Tübingen hat er einiges bewirkt. Gmelin erhielt seine Auszeichnung 1975. Mitgefeiert haben damals auch jene, die 1955 bei der Amtseinsetzung dabei waren und die heftige Diskussion um Gmelins NS-Vergangenheit sicherlich kannten. Der Ehrenbürger-Beschluss erfolgte einstimmig, ohne Diskussion, wie Niklas Krawinkel und Conze im TAGBLATT-Interview vom Mittwoch sagten.

Mit der Aberkennung der Scheef’schen Ehrenbürgerschaft aber hat der Gemeinderat die Latte ziemlich tief gehängt. Nach Gmelin warten schon weitere Kandidaten auf eine gründliche Prüfung: Paul Schmitthenner, Kurt Georg Kiesinger und auch Theodor Eschenburg. Eine grundsätzliche von der Stadt initiierte Diskussion zum Ehrenbürgerproblem – wie sie jetzt zu Gmelin geplant ist – hätte man vor 2013 gebraucht.

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Erstellt:
15.07.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 12sec
zuletzt aktualisiert: 15.07.2017, 01:00 Uhr

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