Hilfe für die Kinder im Donbass

Die Mössingerin Friederike Schlegel unterstützt ukrainische Kinder aus dem Kriegsgebiet

„Granatsplitter finden“ heißt ein Spiel. Erst nach einiger Zeit im Erholungsheim hören die Kinder aus der Ostukraine auf, es zu spielen. Und ihre gemalten Bilder werden wieder bunter. Kürzlich hat die Mössingerin Friederike Schlegel das von ihr mitgegründete „Friedenscamp“ in Russland besucht, wo ukrainische Kinder dem Krieg für einige Zeit entkommen.

04.04.2016

Von Gabi Schweizer

Die Mössingerin Friederike Schlegel unterstützt ukrainische Kinder aus dem Kriegsgebiet

Mössingen/Rostov am Don . Der junge Mann hatte sich wohl nichts bei der Frage gedacht. Im Väterchen Frost-Kostüm war er am 31. Dezember in das Kinderheim im russischen Rostov am Don gekommen: „Was wünscht ihr euch denn?“, fragte er die Kleinen. „Du kannst doch alles“, kam die Antwort von erst drei- oder vierjährigen Kindern: „Mach’ doch bitte, dass es keinen Krieg mehr gibt!“ Das war der Moment, als Friederike Schlegel froh war über ihre Kamera, die sie sich vor die Augen halten konnte. Dass es auf dieser Welt Dreijährige gibt, die sich zu Weihnachten Frieden wünschen müssen, macht sie fassungslos.

Für zwei Wochen war die 62-Jährige über Neujahr nach Russland gereist, in die Stadt Rostov am Don, ganz nah an der ukrainischen Grenze und den umkämpften Gebieten des Donbass. Seit Sommer vergangenen Jahres bringt der Verein „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe“ Kinder, Jugendliche und manchmal auch deren Mütter aus dem Kriegsgebiet zumindest für einige Wochen in Sicherheit. In dem Kinderheim im russischen Rostov können sie sich erholen, erhalten Medikamente, Essen und Ruhe. Viele Kinder, so berichtet die Mössingerin, müssten sich erst wieder daran gewöhnen, dass sie sich vor dem Schlafengehen auskleiden können. Wer jederzeit darauf gefasst sein muss, sein Haus zu verlassen oder in den Keller zu rennen, legt sich in Klamotten ins Bett.

Dass in der Ukraine Krieg herrscht, sei in den Medien gar nicht mehr gegenwärtig, bedauert Schlegel. Sie selbst weiß mittleweile recht viel über die Zustände im Donbass. Zwar nicht aus eigener Anschauung, denn eine Reise dorthin wäre zu gefährlich, aber über Bekannte, das Internet, Augenzeugenberichte: Schlegel spricht fließend Russisch und versteht somit auch das verwandte Ukrainisch. Durch das Hilfsprojekt hat sie inzwischen einige Kontakte in die Krisenregion. Insbesondere die Kinder, das betont sie, leiden unter dem Krieg in den Orten der Ostukraine. Diese stünden trotz Minsk-II-Vertrag unter ständigem Beschuss der ukrainischen Armee und der faschistischen Einheiten des Rechten Sektors, denen die Menschen im Donbass wegen ihrer Verbrechen an der Zivilbevölkerung den Beinamen Henkerbatallione gegeben hätten.

Schlegel, heute Erzieherin und Theaterpädagogin, ist in der DDR aufgewachsen und hat fünf Jahre im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg) russische Sprache und Literatur studiert. Für sie war es „eine Möglichkeit, aus der DDR rauszukommen“. Aus jener Zeit sind ihr nicht nur ihre Sprachkenntnisse geblieben, sondern auch Kontakte nach Russland. Im Mai vergangenen Jahres hatte sie eine Reise zu Verwandten in Moskau geplant. Just zu dem Zeitpunkt formierte sich im Internet eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai nach Moskau fahren und im Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs einen Kranz niederlegen wollte (wegen der Zeitverschiebung feiert Russland das Kriegsende einen Tag später als die westlichen Länder). Die Kanzlerin hatte ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten wegen der Krim-Krise abgesagt. Das sei „beschämend“, fand damals auch Schlegel und schloss sich der Initiative an. Im Rückblick weiß sie: Eine solche Aktion kann diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen. Jedenfalls durfte die Gruppe ihre Blumen erst am 10. Mai und – per Telefonanruf getimt – nach Angela Merkels Kranz niederlegen. Aber durch die gemeinsame Aktion sind Freundschaften entstanden. Und viele Gespräche über die Ukraine. Man müsste helfen – aber wie? Da erinnerte sich Schlegel an die Ferienlager auf der Krim, die sie mit der West-Ost-Gesellschaft Tübingen für Kinder aus der von Tschernobyl verstrahlten Region organisiert hat. „Es war eine Spinnerei im Nachtzug“, erzählt sie. „Wir sagten: Wenn wir wenigstens die Kinder rausholen könnten!“ Schon im Juni hat Schlegel gemeinsam mit vier anderen aus der Gruppe der Moskau-Reisenden die „Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe“ gegründet – einen politisch unabhängigen Verein mit Mitgliedern aus ganz Deutschland und Sitz im brandenburgischen Wandlitz. Schlegel war zunächst im Vorstand. Seit ihrem Umzug von Berlin nach Mössingen – eine Art Rückkehr, denn viele Jahre hatte sie in Nagold gelebt – kümmert sie sich um die Übersetzungen.

Schnell war ein leer stehendes Kinderferienlager ausfindig gemacht. Die Stadt Rostov am Don stellt es kostenlos zur Verfügung und übernahm bis vor Kurzem sogar die Verpflegungskosten. Schon im Juli konnten die ersten Kinder anreisen. Stets sind es Gruppen von 50 oder 60 Jungen und Mädchen, die drei Wochen bleiben dürfen. Einige – nicht alle, das wäre zu teuer – werden von ihren Müttern begleitet, die sich dann um Versorgung und Programm kümmern, unterstützt von den mit 15 und 16 Jahren ältestens Jugendlichen. „Unglaublich, was die auf die Beine stellen“, berichtet Schlegel. Da würde gemalt, gesungen, getanzt.

Theoretisch wäre im Haus Platz für 250 Kindern, aber um so viele aufzunehmen, hat der Verein kein Geld. 2,16 Euro kostet es pro Tag, ein Kind im Friedenscamp zu versorgen. Hinzu kommen die Reisekosten. Auch Sachspenden werden immer benötigt. So stapeln sich in Friederike Schlegels Keller die Hilfsgüter, die im April von Dresden aus versandt werden sollen: Das Mütter- und Familienzentrum hat Kleider gespendet. Auch Medikamente sind gefragt, denn viele Kinder erreichten das Friedenscamp krank und erschöpft. Hier kam kürzlich Hilfe vom Mössinger Arzt Andreas Gammel sowie der Mohren-, der Steinlach- und der Alb-Apotheke, die Medikamente spendeten. Der Verein engagiert sich hauptsächlich im Donbass, aber auch für Menschen auf der Balkanroute oder einen kranken syrischen Jungen, dessen Behandlungskosten er bezahlte.

Man wolle den Kindern „ein Stück unbeschwerte Kindheit zurück geben“, sagt Schlegel. Im Ferienlager würden sie „liebevoll umsorgt, können nach Wochen in Kellern und Bunkern unbeschwert im Freien spielen und zur Schule gehen. Was wir ihnen nicht nehmen können, ist die Angst. Manche sagen, sie möchten eigentlich gar nicht nach Hause – aber wie geht es Mama und Papa?“

Vor Ort kooperiert der Verein mit der Organisation „Wege der Güte“ 1300 Kinder sind seit Sommer 2015 für einige Wochen aus dem Kriegsgebiet evakuiert worden. Momentan stagniert das Projekt. Der Verbindungsweg zwischen Donezk und Gorlowka sei nicht mehr sicher, berichtet Schlegel. Leer steht das Friedenscamp dennoch nicht. 28 Kinder und Mütter bleiben vorerst in Rostov. In der Ukraine haben sie kein Zuhause mehr.

Info: Spendenkonto: Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V., Volksbank Berlin

IBAN: DE56100900002582793002

Verwendungszweck: Heimat auf Zeit

www.fbko.org.

F. Schlegel

F. Schlegel

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04.04.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 04.04.2016, 01:00 Uhr

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