Übrigens über eine Zugfahrt

Die Stunde der Sardine

17.10.2016

Von Frank Rumpel

Die armen Sardinen. Nur weil sie eng gepackt im eingedosten Ölbad angeliefert werden, sind sie es, die allenthalben für Vergleiche von drangvoller Enge herhalten müssen. Die gab’s erst neulich wieder im Zug vom Oberland via Tübingen nach Stuttgart. Früher Sonntagabend. Ein voller Bahnsteig, der eintreffende Zug zu kurz und deshalb längst voll. Von Bahnhof zu Bahnhof drängten sich immer mehr auf den übrig gebliebenen Quadratzentimetern, standen sich in den Fluren und Gängen die Beine in den Bauch.

Die Glücklichen unter den Stehenden fanden eine Ecke zum Anlehnen, andere klemmten sich zwischen ihr Gepäck oder suchten frei balancierend nach Halt, wobei sie in immer kürzeren Abständen Stand- und Spielbein wechselten und sich in den scharf genommenen Kurven an die Gepäckablage klammerten. So mancher mochte gehofft haben, die Zeit möge dieses eine Mal nicht kriechen, sondern fliegen und der Nahverkehr nicht mehr nur die Preise, sondern auch den Service erhöhen. Einige lasen stehend konzentriert, einer daddelte, eine Frau aß ein Lyonerbrot, eine andere strickte wie nebenbei an einem Strampelanzug. Zwei junge Frauen nutzten die Gelegenheit, sich endlich mal so richtig auszusprechen, der Freundin zu sagen, dass die Beziehung zu Kevin sie irgendwie schon gestärkt, ihren Charakter gestählt, sie vom Opfer zur selbstbewussten Frau gemacht habe, jener Streit, als sie total „aggro“ abgegangen war. Da sei es einfach mit ihr durchgegangen, sagte sie, und das, wo sie doch sonst eigentlich - nun gut.

Und jetzt zu uns, sagte sie dann und meinte ihre Freundin. Streit gab es zuvor. Und das war total krass, sagte sie und erläuterte lautstark den nichtigen Grund, ein Kommunikationsproblem im Auto, das eskalierte, ums Linksabbiegen ging es, was sie gleich mehrfach wiederholte, die Szene verbal ins Hirn der augenrollenden Umstehenden und -sitzenden einmassierte. Einer drehte die Musik in seinen Kopfhörern auf. Eine Frau hielt sich die Ohren zu. Ein anderer fuhr intensiv die Polstermuster des Vordersitzes nach. Die Stricknadeln klapperten.

Aber so, fuhr die junge Frau fort, habe sie sich einfach noch nie mit einer Freundin gezofft, nicht mit Melissa und nicht mit Vanessa damals in der Schule und überhaupt noch gar nie mit jener, mit der sie da unterwegs war in die neue, gemeinsame WG. Schlechter Start, mochte man meinen, wie sie sich da zwischen ihren riesigen Koffern um ein Haar in die Arme fielen, sich versicherten, sie verstünden sich prächtig, der Streit Ergebnis überlasteter Nerven, der nun, da sie sich die Herzen erleichtert hatten, begraben sei.

Es ist doch immer wieder ein bewusstseinserweiterndes Erlebnis, wie freimütig manche ihr Seelenleben am liebsten im Offenen ausbreiten, gerne mitten hinein in gespannte Stille, ins Stickige, ausladend in räumlicher Enge, die an Sardinen denken lässt, Fische, die selbst in Freiheit eng, aber still zusammenrücken. Zumindest meint man das so beobachtet zu haben.