Kommentar · Kino und Netflix

Die solidarische Cineastin wartet erst einmal ab

Dorothee Hermann über den Konflikt der Kinos mit der Streaming-Plattform Netflix.

19.12.2019

Von Dorothee Hermann

Voller Kinosaal im Tübinger „Museum“. Archivbild: Metz

Voller Kinosaal im Tübinger „Museum“. Archivbild: Metz

Mancher Kinofreund und manche Cineastin in der Region rieb sich zuletzt verwundert die Augen: Der neue Scorsese „The Irishman“ kam in Tübingen und Reutlingen einfach nicht in die Kinos. Kurz darauf wiederholte sich das Spielchen auch noch mit Noah Baumbachs grandiosem Scheidungsfilm „Marriage Story“ mit den Stars Scarlett Johanssson und Adam Driver („Paterson“).

Beide Filme sind Netflix-Produktionen. Deren aktuelle Verleihkonditionen gehen den Kinos an die Existenz, hört man von den Lichtspielhäusern, die sich deshalb quer durch die Republik zum Boykott entschlossen. In der Region beteiligten sich unter anderem Arsenal, Cineplex Planie und Vereinigte Lichtspiele. Denn derzeit gewährt Netflix den Kinos nur ein sogenanntes Auswertungsfenster von zwei Wochen. Das ist exakt die Mindestfrist, die ein Film im Kino präsent sein muss, damit er ins Rennen um die Oscars starten darf. Danach bietet Netflix den Stream an. Doch statt zwei Wochen bräuchten die Kinos zwei bis drei Monate Vorlaufzeit, damit ein Film überhaupt eine faire Chance hat, auch Geld in die Kassen zu spülen. Je länger die Laufzeit, desto stärker sinkt der prozentuale Anteil der Verleiher, nämlich von Woche zu Woche.

Derzeit laufen Verhandlungen des Branchenverbands „AG Kino – Gilde deutscher Filmkunsttheater“ mit Netflix. Es geht ums wirtschaftliche Überleben, hört man aus der Branche. Nebenbei wird auch schon darüber spekuliert, wie lange es Netflix noch gibt, nachdem zuletzt Giganten wie Amazon und Disney ebenfalls ins Streaming eingestiegen sind.

Kinofreunde interessieren sich häufig weniger für handfeste wirtschaftliche Hintergründe. Sie wollen einfach gute Filme sehen. Ein Kollege war dermaßen frustriert, vorläufig auf „Marriage Story“ verzichten zu müssen, dass er erstmals überlegte, sich ein Netflix-Abo zuzulegen. „Die Kinos treiben da ein gefährliches Spiel“, meinte er.

Doch man kann auch Verständnis für die Kinos haben – und einfach solidarisch abwarten und hoffen, dass die Branche mit den neuen Anbietern eine verträgliche Lösung findet. Schließlich geht es um die Kinokultur: gemeinsam mit anderen Filme anzuschauen – in Cinemascope und nicht nur im begrenzten Rahmen des eigenen Wohnzimmers.

Das Tübinger Kino Arsenal fand nun einen diplomatischen Ausweg: Es nahm Scorseses Geldeintreiber-Thriller „The Irishman“ parallel zum Streaming-Start ins Programm. Der Film sei wie gemacht für die große Leinwand, sagt Dieter Betz, Programmleiter der Kinos Arsenal und Atelier. Und das gelte auch für alle anderen Regisseure, die wie Scorsese in opulenten Bildern schwelgen. „Das Kino muss Vorrang haben. Das ist der schwierige Spagat.“ Doch Betz versteht auch, wie der US-Altmeister auf Netflix gekommen ist. „Scorsese hat mindestens zehn Jahre versucht, den Film zu realisieren.“ Erst Netflix machte eine Zusage. Im grünen Tübingen dürfte es ein weiteres Argument für den bewährten Kinobesuch geben: Streaming gilt als gigantischer Stromfresser.

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Erstellt:
19.12.2019, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 19.12.2019, 01:00 Uhr

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