Strahlende Wildschweine

Ein Drittel aller erlegter Sauen muss entsorgt werden / „Verheerende Kernbotschaft“

Wildschwein schmeckt mit oder ohne Preiselbeeren. Das Fleisch ist ein ganz hervorragendes Lebensmittel. Forstamtsleiter Simon Stahl gerät so ins Schwärmen, dass man den Braten fast schon riechen könnte – wenn seine Ausführungen nicht mit der bitteren Warnung garniert wären: Just am Wildschwein zeigt sich „die langfristige, katastrophale Auswirkung von Tschernobyl“.

26.04.2016

Von Annette Maria Rieger

Forstamtsleiter Simon Stahl ist bekennender Wildschwein-Fan. Er sagt: „Wir alle reden immer von artgerechter Haltung. Vom Verzicht auf Antibiotika und freiem Auslauf. Das alles ist bei Wild sichergestellt.“ Ein umso größerer Jammer sei es, dass ein Teil der Wildschweine nicht vermarktet werden könne, sondern als Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl heute noch entsorgt werden muss. Bilder: ari/Mozer

Forstamtsleiter Simon Stahl ist bekennender Wildschwein-Fan. Er sagt: „Wir alle reden immer von artgerechter Haltung. Vom Verzicht auf Antibiotika und freiem Auslauf. Das alles ist bei Wild sichergestellt.“ Ein umso größerer Jammer sei es, dass ein Teil der Wildschweine nicht vermarktet werden könne, sondern als Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl heute noch entsorgt werden muss. Bilder: ari / Mozer

Kreis Freudenstadt. Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, lag Simon Stahl mit seinen Schulkameraden auf einer Wiese an der Mosel und feierte sein Abitur. Was die Wolken damals aus der Ukraine auch in den Schwarzwald getragen hat, beschäftigt ihn heute noch. Stahl leitet seit Oktober das Forstamt im Landratsamt und ist damit für 47 000 Hektar Wald zuständig – und in dem ist Radioaktivität ein Dauerthema.

Kniebisförster Walter Trefz hat miterlebt, wie im Frühjahr 1986 mit dem Regen still und leise die radioaktiven Partikel im Nordschwarzwald niedergegangen sind. Der Boden ist das Gedächtnis des Waldes, wie Trefz sagt, und in das ist die Radioaktivität tief eingedrungen. Feine Pilzgeflechte im Boden wurden kontaminiert. Sie fungieren als Bioindikatoren. Mit den Worten von Trefz: „Pilze haben ein längeres Gedächtnis als unsere Politiker!“

Ein nicht sonderlich bekannter Pils ist der Hirschtrüffel. Er lebt unter der Erdoberfläche im Verborgenen und ist für Menschen ungenießbar. Den Wildschweinen jedoch gilt er als wahre Delikatesse. Während die Rehe mit dem Vorlieb nehmen, was an Pflanzen aus dem Boden wächst, haben es den Wildschweinen alle trüffelartigen Pilze angetan und ganz besonders der Hirschtrüffel. Mit ihrer feinen Nase spüren sie die Knollen bis in 20 Zentimetern Tiefe auf. Sie zerwühlen den Waldboden, pflügen die Erde durch und graben so tief, bis sich der Hirschtrüffel als Leckerbissen vertilgen lässt. Was sie nicht schmecken: Ausgerechnet Hirschtrüffel nehmen radioaktives Cäsium besonders gut auf. Und Wildschweine, die anders als Rehe Allesfresser sind, verleiben sich mit den Hirschtrüffeln eine überhöhte Dosis Radioaktivität ein.

Wildschweine im Ostkreis

sind nicht belastet

Für Wildschwein-Esser bedeutet das ein erhöhtes Krebsrisiko und nicht absehbare Langzeitfolgen. Und das, obwohl Wildbret als das hochwertigste Lebensmittel gilt, das es auf dem Markt gibt. Artgerechte Haltung und keinerlei Medikamente sind garantiert. Und doch, so bedauert Forstamtsleiter Simon Stahl, müssen zwischen 20 und 80 Prozent aller erlegten Wildschweine im Staatswald in der Tierbeseitigungsanstalt vernichtet werden.

Im Veterinäramt werden Wildschweinproben auf Trichinen und Radioaktivität gemessen. Ab 600 Becquerel pro Kilogramm ist das Fleisch nicht mehr genieß- und verwertbar. Der Jäger muss den Kadaver in der Sammelstelle Bengelbruck abliefern, erhält einen Nachweis und dafür 200 Euro pro entsorgtem Wildschwein aus einem Entschädigungsprogramm des Bundes.

„Das läuft gut bei uns“, sagt Kniebisförster Walter Trefz. In anderen Landkreisen werde nicht gemessen und das sei „eine Riesensauerei“. Zumal bei Radioaktivität nicht nur die höchste Dosis gefährlich sei, sondern auch schon eine geringe Dosis schwere Schäden bis hin zu Krebs verursachen könne. In den ersten Jahren nach Tschernobyl, so erinnert er sich, war die Belastung nicht sonderlich hoch. Das kam dann erst später – als Tiere mit 12 000 Bequarel gemessen wurden.

Die Belastung variiert je nach Gebiet und Zeitpunkt. Die Jagdreviere im Ostkreis sind nicht belastet; Stichproben beim Schwarzwild werden aber auch hier gemacht. Bis heute zeigt sich, wo es damals geregnet hat und radioaktives Cäsium in den Boden gelangt ist. Bei den Wildschweinen kommt es auch auf die Futtergrundlage an. Im Horber Gebiet fressen sie sich eher durch Maisfelder, im Westkreis sind sie eher auf Pilze im Waldboden angewiesen. Erhöhte Werte werden ab Pfalzgrafenweiler, Dornstetten, Freudenstadt Richtung Westen gemessen. Im Staatswald werden alle erlegten Wildschweine untersucht.

Insgesamt 400 bis 500 Wildscheinproben untersucht das Veterinär- und Verbraucherschutzamt des Landkreises pro Jahr. Im vergangenen Jahr, sagt Amtsleiter Dr. Edmund Hensler, waren es exakt 471 Tiere. Bei 161 davon war der Grenzwert von 600 Becquerel überschritten; das Fleisch durfte nicht verzehrt und vermarktet werden.

Der höchste Wert lag deutlich über 4000 Becquerel. Und hier, so lässt sich seiner Ansicht nach nur vermuten, könnte auch natürliche Radioaktivität, wie sie gerade im Schwarzwald vorkommt, eine Rolle spielen. Edmund Hensler als zuständiger Lebensmittelüberwacher kann dem ganzen Prozedere immerhin ein Gutes abgewinnen: Wegen der Wildschwein-Misere hat der Landkreis jetzt immerhin vor einem Jahr ein eigenes Messgerät angeschafft. Damit müsse man beim nächsten Störfall dann nicht mehr so lange auf die Mess-Ergebnisse von auswärts warten.

Den Wildschweinen geht es zumindest so gut, dass sie sich munter vermehren. Der Bestand wächst. Es werden immer mehr – sogar viel mehr, wie Forstamtsleiter Stahl sagt. Das könnte am Klimawandel liegen, weil sich dadurch die Nahrungssituation für die Wildschweine verbessert hat.

Damit werden aber auch mittelfristig Jahr für Jahr mehr Wildschweine unverzehrt auf der Bengelbruck landen. Dort werden die Kadaver gesammelt. Seit einem Jahr gibt es dafür immerhin eine Kühlzelle. Dann werden sie nach Isenburg in die Sammelstelle der Tierbeseitigungsanstalt gebracht und weiter über den Zweckverband Tierkörperbeseitigung in Warthausen bei Biberach verbrannt und entsorgt.

Eine „verheerende Kernbotschaft“, nennt das Kreisforstamtsleiter Simon Forst: „Es ist nicht zu fassen, wenn man bedenkt, wie weit weg wir von Tschernobyl sind und welche schrecklichen Auswirkungen das immer noch hat. In diesem Zusammenhang kann man meiner Ansicht nach keinen Zweifel am Atomausstieg haben. Die Wahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls mag minimal sein. Die Auswirkungen sind jedoch immens.“

Wahrscheinlichkeit gering,

Auswirkungen immens

Für Stahl zeigt jede Wildsau, die geschossen wird und nicht verwertet werden kann: „Technik in der Form ist nicht verantwortbar. Da entsteht ein ungeheurer Schaden. Auch wenn wir insgesamt betrachtet ja nur minimal betroffen sind von dieser Nuklearkatastrophe.“

Stahl verdeutlicht: „Wir alle reden immer von artgerechter Haltung. Vom Verzicht auf Antibiotika und freiem Auslauf. Das alles ist bei Wild sichergestellt – und kann doch nicht vermarktet werden.“ Vor diesem Hintergrund ist ihm wichtig zu betonen: Der überwiegende Teil der erlegten Wildschweine sind entsprechend der Messungen völlig unbedenklich und können mit größtem Genuss verspeist werden.

Siehe auch das „Ausserdem“ sowie die Artikel zum Thema Tschernobyl in der Horber Chronik, der Sulzer Chronik, auf der Freudenstadt-Seite, auf der Landkreis-Seite und im Lokalsportteil.

Ein Drittel aller erlegter Sauen muss entsorgt werden / „Verheerende Kernbotschaft“
Rottenburg. Wildschweinrotte im Wildgehege (Rammert)23-07-2001 / Bild: MOZER

Rottenburg. Wildschweinrotte im Wildgehege (Rammert) 23-07-2001 / Bild: MOZER

Ein Drittel aller erlegter Sauen muss entsorgt werden / „Verheerende Kernbotschaft“