Interview zur Digitalcharta mit Bernhard Pörksen

Ein Energiestoß für den Diskurs

Internet Bernhard Pörksen hat an einer Charta der digitalen Grundrechte für die Europäische Union mitgearbeitet. Mit dem TAGBLATT sprach der Tübinger Medienwissenschaftler über Regeln für Bürger und Netzgiganten.

05.12.2016

Von Hans-Jörg Schweizer

Charta der digitalen Grundrechte.

Charta der digitalen Grundrechte.

Politiker, Journalisten und Forscher haben in den vergangenen 14 Monaten eine europäische Charta der digitalen Grundrechte erarbeitet. Am Montag legte der Soziologe Heinz Bude die Charta dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments als Diskussionsgrundlage vor. Unter den 27 Mitwirkenden an der Charta waren auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, die Schriftstellerin Juli Zeh, der Blogger Sascha Lobo und der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.

TAGBLATT: Herr Pörksen, Sie haben an der Charta der Digitalen Grundrechte für die Europäische Union mitgearbeitet. Warum glauben Sie, dass eine solche Charta nötig ist?

Bernhard Pörksen: Die digitale Vernetzung ermöglicht einen gewaltigen Informationsreichtum, die blitzschnelle Kontaktaufnahme, die barrierefreie Kommunikation, unabhängig von Raum- und Zeitgrenzen. Das ist phantastisch. Aber eben diese digitale Vernetzung erzeugt auch abgrundtiefe Machtasymmetrien zwischen normalen Bürgern und Netzgiganten und einer staatlichen oder privatwirtschaftlich motivierten Überwachungsmaschinerie. Das sind Entwicklungen, die einer Demokratie gefährlich werden können. Wir erleben die Bildung neuer Monopole im Bereich der Wirtschaft, neue Formen der Propaganda und der Manipulation im Politischen, die Eskalation von Mobbing und Hetze im Berufs- und Privatleben, die Fragmentierung des öffentlichen Raumes und die Schwächung des klassischen Journalismus. All dies verlangt nach dem großen gesellschaftlichen Gespräch, nach einer Wertedebatte, die die schlichte Frage stellt: Wie wollen wir leben im digitalen Zeitalter? Unsere Charta soll zu dieser Debatte einen Beitrag liefern.

Wer hat an dem Entwurf mitgearbeitet? Und wie kamen Sie selbst dazu?

Die Ur-Idee zu dieser Charta als Ansatzpunkt einer wirklich dringenden, möglichst breiten, gesellschaftlichen Diskussion über Grundrechte im digitalen Zeitalter geht auf Giovanni di Lorenzo, den Politiker Martin Schulz und Frank Schirrmacher zurück. Dazu eingeladen, an einer solchen Charta mitzuarbeiten, hat dann die Zeit-Stiftung. Zusammengekommen ist eine bunte Gruppe aus Schriftstellern, Juristen, Politikern, Netzaktivisten, Unternehmern, Medienmachern und Wissenschaftlern. Da gehörte ich auch dazu.

Wie sah die Zusammenarbeit konkret aus? Gab es viele reale Konferenzen und Arbeitstreffen? Oder lief das alles übers Netz?

Es war immer eine Mischung: Treffen vor Ort, Debatten über eine Online-Plattform oder per Rundmail, die Arbeit einer Kerngruppe, die ihre Ideen dann wieder im Plenum vorstellte. Wir haben uns auch herzhaft gestritten, aber die totale Verschiedenartigkeit der Perspektiven war großartig. Unterschiedlichkeit ist ein Katalysator, ein Energiestoß für den Diskurs – das haben mir die Gespräche gezeigt.

Autonome Waffensysteme, Hetze in Sozialen Medien, informationelle Selbstbestimmung – die Themen, die in der Charta behandelt werden, sind so vielfältig wie der digitale Alltag. Welcher der 23 Artikel liegt Ihnen besonders am Herzen?

Vielleicht ist dies mein Bias als Universitätsbewohner: Mir selbst ist der Artikel 20 besonders wichtig. Er ruft dazu auf, die digitale Vernetzung endlich als eine zentrale Bildungsherausforderung zu begreifen. Als die große, noch unverstandene Aufgabe, die vor uns liegt. Ein paar Medienkompetenz-Seminare oder neue Tablets für Schüler reichen da definitiv nicht aus.

Was schwebt Ihnen
stattdessen vor?

Meine eigene, persönliche Bildungsutopie besteht darin, dass wir allmählich einen Wandel durchmachen sollten. Einen Wandel von der digitalen zur redaktionellen Gesellschaft. Ich meine damit, dass die Grundfragen des klassischen Journalismus nach der Glaubwürdigkeit, der Relevanz und der Publikationsnotwendigkeit von Information zu einem Element der Allgemeinbildung werden sollten. Früher waren dies die Fragen von Journalisten. Heute gehen sie uns alle an und müssten von allen möglichst reflektiert beantwortet werden.

In Artikel fünf der Charta geht es um Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit. Da heißt es: „Ein pluraler öffentlicher Diskursraum ist sicher zu stellen.“ Das ist sehr vage formuliert. Was ist damit gemeint?

Im Konkreten meint diese allgemein daherkommende Formulierung dreierlei: Zum einen erleben wir in einzelnen europäischen Ländern derzeit eine massive Beschränkung der Pressefreiheit. Zum anderen zeigt sich in westlichen Demokratien insgesamt eine Refinanzierungskrise des Qualitätsjournalismus. Das macht die Frage wichtig, was uns als Gesellschaft kostenintensiv produzierte, intensiv recherchierte, unabhängige Information wert ist. Und schließlich gibt es längst raffinierte Propagandaformen in der digitalen Öffentlichkeit, die das Ideal der Aufklärung und der Informationsvielfalt bedrohen: Von der Nutzung von Social-Bots bis hin zur Seuche politisch motivierter Fake-News.

Der scheidende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat es gefordert, Digital-Kommissar Günther Oettinger hielt es für überflüssig. Es gab schon andere Anläufe, digitale Grundrechte zu formulieren. Auch Bundes-Justizminister Heiko Maas hat einen Vorstoß unternommen, aus dem nichts wurde. Warum soll Ihr Entwurf sich durchsetzen?

Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass sich unsere Charta durchsetzen würde. Dass wir also durch unsere Treffen und ein gemeinsames Dokument gleichsam über Nacht auf europäischer Ebene Primärrecht schaffen. Nein, wir haben ganz bewusst und gleich im ersten Satz der veröffentlichten Fassung gesagt: Wir übergeben die Charta dem Europäischen Parlament und der Öffentlichkeit, als Anlass und Anreiz für das gesellschaftliche Gespräch.

Aber ein gewichtiges Wort mitreden wollen Sie dabei schon.

Wir wollten einen möglichst zur produktiven Kontroverse einladenden Vorschlag
liefern. Aber doch bitte nicht um dann auf punktgenaue Umsetzung zu drängen und ein in Stein gemeißeltes Paragraphenwerk zu produzieren. Die entscheidende Botschaft ist aus meiner Sicht nicht die Charta selbst, sondern dass wir uns über die Zukunft von Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter endlich streiten müssen. Der Jurist Günther Oettinger mag das nicht so wichtig finden. Aber das bedeutet eigentlich nur, dass ihm das Gespür für den existenziellen Eigenwert von Debatten in der momentanen gesellschaftlichen Situation fehlt.

Das Internet ist per Definition international. Die Charta haben Deutsche erarbeitet. Warum sollten sich andere Länder dieses Regelwerk zu eigen machen?

Das wird nicht passieren, gewiss nicht. Und es wäre vermessen, wenn nun eine private, rein deutsche Initiative aus der Zivilgesellschaft annimmt, sie könne mal eben europäisches Recht in die Welt hinein betonieren. Auch hier sehe ich den eigentlichen Erfolg in der Wertedebatte selbst, die Diskussionen in Foren und Ausschüssen, die das Dokument verwandeln und hoffentlich verbessern wird. Eben dafür ist die Vorstellung der Charta im EU-Parlament zentral.

Sie plädieren für eine neue Form der Debatte im digitalen Zeitalter, Warum ist diese Ihrer Meinung nach so dringend nötig?

Wir erleben ja momentan eine massive Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft, auch europaweit, gestützt durch die Möglichkeit, sich in die eigene digitale Echokammer mit lauter Gleichgesinnten zurückziehen. Alle, die das große gesellschaftliche Gespräch wollen, müssen unter den gegenwärtigen Kommunikationsbedingungen neu nachdenken, und sich fragen: Auf welche Weise lässt sich noch Aufmerksamkeit für ein Thema erzeugen? Wie kann man Problemerkenntnis unter den momentanen Bedingungen und erlebbarer Rat- und Hilflosigkeit fokussieren? Für mich ist die Charta und die rechtliche Ausformulierung ein Versuch, eine Antwort zu geben.

Ja, aber im „World-Wide-Web“ geben global agierende Konzerne den Ton an, Regierungen üben Zensur aus. Auf welche Weise kann den digitalen Grundrechten in einem solchen weltweiten Netz Geltung verschafft
werden?

Eine europäische Einigung könnte genau der Weg sein, das aktuelle Dilemma der allenfalls begrenzten Geltung des Rechts zu lösen. Denken Sie an volksverhetzende Postings, die Facebook auch nach vielen Hinweisen der Nutzer ignoriert, weil die redaktionelle Einschätzung Geld kostet und womöglich dem amerikanischen Konzept von Meinungsfreiheit widersprechen würde. Gleichzeitig löscht man die Bilder einer Frauenbrust, eben weil ein Algorithmus diese erkennen kann und diese aus der Sicht des Unternehmens anstößig erscheinen. Hier im europäischen Diskursraum eine größere Klarheit herzustellen, die nächsten Konkretisierungsschritte zu gehen könnte helfen, auf Augenhöhe mit einem Digital-Giganten die als richtig erkannten Regeln durchzusetzen. Aber das ist, wie gesagt, Zukunftsmusik.

Und wie wird es nun mit dem Entwurf der Charta weitergehen?

Es ist noch zu früh, das zu sagen. Es gab Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitungen, dann die Vorstellung im Ausschuss des EU-Parlaments, die Übersetzung des Entwurfs in verschiedene Sprachen. Im Moment wird debattiert. Es gibt jede Menge Kommentare zu den einzelnen Artikeln der Charta, Rede und Gegenrede, auch jede Menge Widerspruch und entschiedene Kritik. Das Ganze ist Experiment mit offenem Ausgang im Diskursraum der digitalen Welt. Für mich ist eben dieser Prozess selbst schon ein Wert an sich.

Bernhard Pörksen (47) ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Privatbild

Bernhard Pörksen (47) ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Privatbild

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Erstellt:
05.12.2016, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 05sec
zuletzt aktualisiert: 05.12.2016, 21:00 Uhr

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