Gast der Woche

Ein Thema, das man gern noch etwas aufschiebt

Tilman Grauer musste entscheiden, ob im Altersheim Bewohner angebunden werden durften. Der pensionierte Familienrichter sitzt heute im Vorstand des Betreuungsvereins Landkreis Tübingen.

10.12.2016

Von Ulrich Janßen

Tilman Grauer trat dem Betreuungsverein bei, weil er die Folgen seiner Entscheidungen kennenlernen wollte. Bild: Metz

Tilman Grauer trat dem Betreuungsverein bei, weil er die Folgen seiner Entscheidungen kennenlernen wollte. Bild: Metz

Irgendwann passiert es, das weiß man eigentlich. Es trifft den Vater, die Mutter, die Großtante oder einen selbst. Und es kann sehr plötzlich kommen, auch das weiß man. Trotzdem verdrängt man das Thema, so gut es geht: Muss ich wirklich jetzt schon drüber nachdenken? Soll ich diese komplizierten Vollmachten und Verfügungen tatsächlich ausfüllen? Zum Notar gehen? Die Angehörigen beunruhigen?

Tilman Grauer hat oft erlebt, was passiert, wenn schwere Entscheidungen getroffen werden müssen, weil ein Mensch nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen hat und plötzlich über sein Leben nicht mehr selbst bestimmen kann. Als Richter musste dann er entscheiden, ob ein dementer Bewohner eines Altersheims eingeschlossen oder ans Bett gebunden werden darf („da habe ich fast immer nein gesagt“). Er war auch zuständig, wenn ein psychisch Kranker in eine geschlossene Abteilung aufgenommen werden oder einer Frau mit Psychose ein Bein amputiert werden sollte.

Schwere Entscheidungen, auf die der Jurist in seinem Studium kaum vorbereitet wurde: „Da ging es um große Themen, um das BGB oder das Strafgesetzbuch, nicht ums Familienrecht.“ Tatsächlich war das Familienrecht bis in die Siebziger Jahre ein juristisches Nischenthema. Die meisten Familien waren damals noch groß und stabil genug, um ihre Kranken und Alten einigermaßen aufzufangen. Und wenn es doch Probleme gab, wurde das irgendwie in der rechtlichen Grauzone abgewickelt. Das hat sich geändert.

Zum einen werden die Menschen heute immer älter und damit anfälliger für eine Demenz. Und zum anderen werden die Familien immer kleiner und wackliger. Wenn es überhaupt noch Angehörige in der Nähe gibt, können oder wollen diese nicht immer die Verantwortung übernehmen für einen Menschen, der dement ist oder manisch-depressiv. Hinzu kommt, dass Politik und Rechtsprechung die Persönlichkeitsrechte sehr viel ernster nehmen als früher. Seit 1992 können Erwachsene in Deutschland nicht mehr entmündigt werden.

„Die Grenze, ab der Angehörige einbezogen werden, hat sich verschoben“, meint Grauer. Ohne eine förmliche Vorsorgevollmacht erhält heute kein Kind mehr eine Auskunft über das Bankkonto der dementen Eltern. Auch Eheleute können, anders als viele denken, nicht automatisch die Angelegenheiten des Partners regeln, wenn der selbst es nicht mehr schafft. Weil das sogar für medizinische Auskünfte und ärztliche Behandlungen gilt, hat der Bundesrat vor kurzem einen Gesetzentwurf eingebracht, der dies ändern soll. Ehe- oder Lebenspartner sollen danach automatisch als bevollmächtigt gelten. Dass dies nicht unproblematisch ist, weiß Grauer: „Was passiert, wenn Ehepaare im Streit sind und keiner möchte, dass der andere entscheidet, was am Lebensende geschehen soll?“

Ein anderes Beispiel für die Verwicklungen, die sich ergeben, wenn die letzten Dinge nicht rechtzeitig und klar geregelt wurden: „Stellen Sie sich eine Familie vor, in der das eine Kind die Mutter ins Pflegeheim geben möchte, damit sie gut versorgt wird, und das andere sie unbedingt zu Hause behalten möchte, weil die Rente der Mutter benötigt wird, um beispielsweise private Kreditforderungen zu begleichen.“

Wenn die Familie vor solchen Fragen steht, kommt jener Verein ins Spiel, dem Grauer seit seiner Gründung angehört: Der Betreuungsverein Landkreis Tübingen. Der Jurist ist dem Verein beigetreten, weil er die andere Seite kennenlernen wollte. Ihn interessierte, was passiert, wenn der Richter eine Betreuung anordnet. Seit 2006 sitzt er auch im Vorstand des gemeinnützigen Vereins, kümmert sich unter anderem um die Einstellung des Personals, und hält „die gesetzlich geregelte Betreuung für eine gute Alternative“. Sie helfe, „Konflikte in der Familie zu vermeiden“.

Anders als Angehörige, die sich privat (mit oder ohne Notar) eine Vorsorge-Vollmacht erteilen können, wird die rechtliche Betreuung vom Staat geklärt. In Württemberg sind aus Tradition noch die Notariate dafür zuständig. Sie müssen, wenn es nötig ist, Betreuer suchen, bestellen und entlassen. Mit der Auflösung der staatlichen Notariate zum 31. Dezember 2017 fällt das bei manchen Notaren nicht gerade beliebte Geschäft aber an die Amtsgerichte.

Betreuer wird man, weil das Gericht einen dazu ernennt. Die Ernennung ist verpflichtend. „Ablehnen können Sie das Amt nur mit sehr beträchtlichen Argumenten“, sagt Grauer. Betreuer kommen oft aus der Verwandtschaft, können sich aber auch freiwillig melden. Sie wirken in der Regel ehrenamtlich, und sind als gesetzliche Vertreter die Ansprechpartner für fast alle Belange des betreuten Menschen. Betreuer beantworten Briefe, kümmern sich um die Steuererklärung, erledigen Überweisungen, engagieren Haushaltshilfen, und entscheiden unter Umständen auch, ob bei ihrem Schützling eine Gehirnoperation vorgenommen oder eine Magensonde gelegt wird.

Rund 200 ehrenamtliche Betreuer werden aktuell vom Betreuungsverein begleitet. Damit sie ihre Arbeit gut und korrekt ausführen können (immerhin müssen sie jährlich dem Gericht Bericht erstatten), werden sie vom Betreuungsverein beraten. Der Verein ist auch dafür zuständig, Leute zu suchen, die sich eine solche Betreuung zutrauen. In besonders schweren Fällen, etwa bei einem Menschen mit einer schweren Psychose, übernimmt ein festangestellter Mitarbeiter des Vereins die Betreuung.

Finanziert wird die professionelle Betreuung, wenn der Betreute mittellos ist, vom Staat. Im Prinzip jedenfalls. Tatsächlich ist der Stundensatz für die Betreuung seit über zehn Jahren gleich geblieben, während gleichzeitig die Löhne der Mitarbeiter/innen gemäß den Tarifabschlüssen stiegen.

Während die Einnahmen sinken und die Ausgaben steigen, wächst gleichzeitig die Nachfrage nach Beratung und Betreuung. Das bringt den gemeinnützigen Verein, wie bundesweit viele andere Betreuungsvereine, an seine Grenzen. „Wir sind von Insolvenz bedroht“, meint Grauer. Bis die Politik reagiert und die Bezahlung an die Löhne anpasst, hofft der Richter, den Verein mit Hilfe von Spenden am Leben halten zu können. Entsprechend wichtig ist für ihn die Aufnahme in die TAGBLATT-Spendenaktion.

Mit dem Geld will der Verein auch die Beratung verstärken. Auch in Rottenburg und Mössingen sollen sich künftig Interessierte vor Ort beraten lassen können. Könnte sein, dass der eine oder andere sich das mit den Verfügungen und Vollmachten doch noch überlegt. Bevor das passiert, was irgendwann ziemlich sicher jedem passiert.

Tilman Grauer Familienrichter

1950 In Stuttgart geboren

1968 Abitur in Stuttgart

1969-1978 Jurastudium in Würzburg, Lausanne und Tübingen

1981 bis 2001 Familienrichter am Amtsgericht Tübingen

2001 bis 2015 Familienrichter am Oberlandesgericht in Stuttgart

seit 2015 im Ruhestand