Ehrenamt

Eine Schule der Geduld

Barbara Rauschenberger leitet seit 10 Jahren die Lebenshilfe Horb-Sulz. Auch wenn sie sich als „amtsmüde“ bezeichnet, ist sie dankbar für viele schöne Momente.

24.01.2019

Von Philipp Koebnik

Barbara Rauschenberger Bild: Philipp Koebnik

Barbara Rauschenberger Bild: Philipp Koebnik

Bei der Lebenshilfe gilt das Prinzip: „Begleiten, nicht betütteln“, erklärt Barbara Rauschenberger. Die Lebenshilfe bietet Freizeitprogramme für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige an. Außerdem berät sie Betroffene und kümmert sich – politisch gesehen – um die Belange dieser Menschen. Seit 2009 ist Rauschenberger die Vorsitzende des Ortsvereins Horb-Sulz der Lebenshilfe. Die 51-Jährige lebt in Altheim, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Bereits seit 2003 gehört sie dem Vorstand an.

Die Lebenshilfe Horb-Sulz feierte im vergangenen Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Rauschenberger kam vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensumstände zu der Selbsthilfevereinigung. Ihr heute 18-jähriger Sohn wurde mit dem sogenannten Mosaik-Down-Syndrom geboren. Äußerlich nicht sichtbar, habe er eine „leichtere geistige Behinderung“, erklärt Rauschenberger. Ein solches Ehrenamt „liegt einem dann natürlich nahe“. In Kontakt zur Lebenshilfe kam sie bereits zu Schulzeiten: Sie machte ihr Abitur zusammen mit der Tochter der damaligen Vorsitzenden und heutigen Ehrenvorsitzenden, Rosemarie Schneider. Diese habe sie in den Vorstand „rekrutiert“. Da sie ohnehin immer etwas Ehrenamtliches habe machen wollen, „habe ich gleich Ja gesagt“, erzählt Rauschenberger.

Um sie von der Mitarbeit im Vorstand zu überzeugen, hatte Schneider den Aufwand indes leicht untertrieben. Rund vier Sitzungen gebe es pro Jahr. Doch Rauschenberger merkte schnell: „Je nach Neigung und Engagement findet man mehr oder weniger Arbeit im Vorstand.“ Es sei wichtig, die Leute entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen, um keinen zu überfordern und niemandem „schlaflose Nächte zu bereiten“.

Als Vorsitzende der Lebenshilfe Horb-Sulz führt die 51-Jährige deren Geschäfte. Das bedeutet, sie ist zuständig für die Einnahmen und Ausgaben, akquiriert Spenden, nimmt repräsentative Aufgaben wahr und kümmert sich um das Personal. „Es ist, als hätten Sie eine kleine Firma.“

Außerdem ist Rauschenberger für rechtliche Dinge zuständig. So prüft sie, ob die Mitarbeiter, die mit dem vereinseigenen Achtsitzer-Bus herumfahren, einen entsprechenden Führerschein haben. Zudem muss jeder, der bei der Lebenshilfe tätig sein möchte, ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. „Sie müssen immer am Puls der Zeit sein, was sich gesetzlich tut“.

Überdies sitzt Rauschenberger im Verwaltungsrat der Schwarzwaldwerkstatt (SWW) Dornstetten und (stellvertretend) im Aufsichtsrat der Neckarwerkstatt Sulz. Beide Einrichtungen beschäftigen zusammengenommen mehrere hundert Menschen mit Behinderung.

In diesem Zusammenhang gibt es auch Kritik an der Lebenshilfe (siehe Infobox). Rauschenberger kann dies nicht nachvollziehen. Die Werkstätten seien „keine Wirtschaftsunternehmen im eigentlichen Sinn“. Vielmehr hätten sie „den klaren gesetzlichen Auftrag, Arbeitsplätze und Tagesstrukturen für alle Menschen mit Behinderung zu schaffen“. Einen „passenden Arbeitsplatz“ zu haben sei schließlich eine Form gesellschaftlicher Teilhabe. Sie empfinde „die Zusammensetzung aus Lebenshilfen und Kostenträger in der SWW eher als Vorteil“. Denn dies helfe, „gangbare Wege zu finden und keine Luftschlösser zu bauen, die nachher vom Kostenträger, auch aus gesetzlichen Gründen, nicht finanziert werden können“. Zwar wären höhere Löhne für die Betroffenen wünschenswert, so Rauschenberger, jedoch handle es sich dabei nicht um „Lohn im üblichen Sinn“. Und: „Der Arbeitsplatz in der Werkstatt mit Begleitung, Betreuung, Fortbildung der Beschäftigten trägt sich nicht selbst, sondern wird neben dem Wohnen, der Freizeitgestaltung und anderem mehr vom Sozialhilfeträger finanziert.“

Der niedrigste Lohn in der SWW liege bei 100 Euro monatlich. „Je nach Leistungsgrad, Arbeitsqualität und -quantität wird zusätzlich ein Steigerungsbetrag gezahlt“, erklärt Rauschenberger. Maximal könne der Lohn 700 Euro betragen. 2015 habe der monatliche Durchschnittslohn der Beschäftigten in der SWW bei rund 170 Euro gelegen.

Rauschenberger arbeitet als Prozessmanagerin beim Maschinenbauunternehmen Homag. In die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Selbsthilfevereinigung musste sie sich erst einfinden: „Ich komme aus der Industrie – das waren für mich böhmische Dörfer“, erinnert sie sich. Bei der Firma ist sie zu 85 Prozent beschäftigt. Die restlichen 15 Prozent gehen „locker“ für die Lebenshilfe drauf, sagt sie.

Ihr Start vor zehn Jahren sei nicht einfach gewesen. Denn die Lebenshilfe Horb-Sulz hatte „massive finanzielle Schwierigkeiten“. Rauschenberger musste „im Prinzip die Geschäftsstelle von Grund auf sanieren“ und auf tragfähige Füße stellen, erinnert sie sich. Man habe mithin Personalkosten reduzieren, sprich: Leute entlassen müssen. „Das denkt man nicht, wenn man so ein Ehrenamt übernimmt, dass man vor solchen Entscheidungen steht“. Heute ist die Lage ein bisschen besser. Dennoch: „Wir können den Laden nur am Laufen halten, mehr Ressourcen haben wir nicht.“

In den vergangenen Jahren habe ihr Team viel Neues ausprobiert. Mit einigem sei man aber auch gescheitert. Oftmals sei das nicht voraussehbar. So hätten sie Info-Veranstaltungen zu hochinteressanten Themen organisiert, Flyer verteilt, Einladungen an Ärzte und Pädagogen verschickt – „und dann kommt halt trotzdem niemand“, sagt die 51-Jährige ernüchtert.

Rauschenberger freut sich aber auch über einige Entwicklungen der vergangenen Jahre. Sie habe viele nette Menschen kennengelernt und viel Engagement erfahren, sowohl von Einzelpersonen als auch von Firmen. Der Höhepunkt der vergangenen zwei Jahre sei, dass es ihr gelungen ist, das „Netzwerk für Eltern mit besonderen Kindern“ als Selbsthilfegruppe innerhalb des Verbands wiederzubeleben. Dabei steht der Austausch im Mittelpunkt: Welche Therapien gibt es? Wo finde ich einen guten Logopäden? Wie funktioniert das mit dem Behindertenausweis? Und: Die Zusammenarbeit mit ihrer Stellvertreterin Andrea Kipp-Steidinger sei ein „absoluter Glücksfall“. Beide ergänzten sich wunderbar – „wir sind ein perfektes Team“.

Den Umgang mit Menschen mit Behinderung empfindet sie als sehr bereichernd. „Es ist einfach cool mit solchen Leuten.“ Gespräche mit Menschen ohne Behinderung seien oft viel anstrengender, es gebe nervige Diskussionen, den Leuten gehe es um Selbstdarstellung. Anders mit Behinderten: Diese seien offen und ehrlich; umgekehrt könne man ihnen ebenfalls offen sagen, wenn man gerade keine Lust zum Reden hat. „Sie müssen nicht taktieren.“

Und: Es lehre einen Geduld. Der Umgang sorge für Entschleunigung, denn „Sie müssen langsamer, schlichter und klarer werden“. Das führe zu mehr Gelassenheit. Beispiel: gemeinsames Backen in der Adventszeit. „Die eine backt, der andere singt, und am Schluss sitzen alle da, bis sie der Bus irgendwann abholt.“ Von der Hektik, wie sie sonst im Alltag oft herrscht, fehlt jede Spur. Besonders beeindruckt hat sie ein Moment im Schwimmbad. Eine Autistin warf ihr plötzlich, zum ersten Mal nach anderthalb Jahren, den Ball zu – „das war ein Hammer Gefühl“, erinnert sich Rauschenberger.

Inzwischen bezeichnet sich die 51-Jährige als „amtsmüde“. Allerdings gestaltet sich die Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger schwierig. „Weit und breit“ sei niemand in Sicht. Ein solches Ehrenamt erfordere eben recht viel Zeit. Rauschenberger ärgert sich deshalb, wenn Politiker in Sonntagsreden das Ehrenamt loben, aber nichts dafür tun, um das Ehrenamt tatsächlich zu stärken und den Engagierten den Rücken freizuhalten. „Warum kann der Staat sich nicht darum kümmern, dass Vereinsvorsitzende entlastet werden?“ Eine Möglichkeit wäre aus ihrer Sicht, solche Leute zum Teil von der Arbeit freizustellen. Diese Frage habe sie auch unlängst bei einer Veranstaltung Ministerpräsident Winfried Kretschmann gestellt. Doch er habe nur entgegnet: Tja, da könne man leider nichts machen.

Für mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ist ein 1958 gegründeter gemeinnütziger Verein. Die Lebenshilfe versteht sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit speziell geistiger Behinderung und deren Familien. Sie begleitet Behinderte und unterstützt sie dabei, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Indes gibt es auch Kritik: Bemängelt wird, dass durch die Doppelfunktion als Interessenvertreter einerseits und Dienstleister für Menschen mit Behinderung andererseits (etwa diverse gGmbH) ein Interessenkonflikt bestehe. Als Interessenvertreter müsste die Lebenshilfe etwa die Forderung von Mitarbeitern der Werkstätten für behinderte Menschen nach höheren Löhnen unterstützen, da sie dadurch unabhängiger von ergänzender Sozialhilfe werden würden; als Betreiber solcher Werkstätten könnte die Lebenshilfe eine solche Forderung jedoch aus Kostengründen ablehnen.