Streaming · „Tribes of Europa“

Regisseur Philip Koch: „Es geht um einen Neuanfang“

Ein Kontinent nach der Katastrophe: Regisseur Philip Koch spricht über seine futuristische Netflix-Serie „Tribes of Europa“ – inspiriert vom Brexit.

19.02.2021

Von Dieter Oßwald

Szene aus „Tribes of Europa“: Ein mysteriöser Würfel löst Unruhe unter den rivalisierenden Stämmen aus. Drei Geschwister (Henriette Confurius, David Ali Rashed, Emilio Sakraya) kämpfen mittendrin ums Überleben. Foto: Foto:Gordon Timpen

Szene aus „Tribes of Europa“: Ein mysteriöser Würfel löst Unruhe unter den rivalisierenden Stämmen aus. Drei Geschwister (Henriette Confurius, David Ali Rashed, Emilio Sakraya) kämpfen mittendrin ums Überleben. Foto: Foto:Gordon Timpen

Verglichen mit der Welt von „Tribes of Europa“ ist die Gegenwart ein Vergnügungspark. In der sechsteiligen Serie, die ab 19.?Februar bei Netflix zu sehen ist, führt ein globaler Blackout zu Chaos und Anarchie. Die alten Nationen verschwinden. Mikro-Staaten entstehen und kämpfen um die Vorherrschaft. Doch es gibt auch Hoffnung und Humor. Geschrieben und gedreht hat „Tribes of Europa“ der Münchner Philip Koch.

Herr Koch, weshalb schreiben Sie im englischen Titel Europa mit „a“ statt mit „e“?

Philip Koch: Unsere Serie erzählt von einem postapokalyptischen Europa, in dem sich nach einer großen Katastrophe alle Sprachen und Kulturen vermischt haben. Der Titel ist eine Mischung aus englischer lingua franca und einem metaphorischen Neuanfang für diesen Kontinent.

In der guten alten „Raumpatrouille Orion“ wurden Bügeleisen und andere Haushaltsgegenstände als futuristische Objekte genutzt. Woraus besteht Ihr mysteriöser Würfel, den alle haben wollen?

Wir hatten verschiedene Würfel, um sie für unterschiedliche Zwecke einzusetzen. Das Hauptmaterial bestand aus Hartplastik, in das Lichteffekte eingebaut werden konnten. Es gab auch welche aus Gummi, die man problemlos werfen konnte. Nur jene Titanlegierung, von der im Film die Rede ist, gibt es in Wirklichkeit nicht – das hätte unser Budget vermutlich gesprengt! (Lacht)

Für Ihren Erstling „Picco“ gab es vor zehn Jahren euphorische Kritiken – ist es Fluch oder Segen , wenn die Latte gleich zu Beginn so hoch liegt?

„Picco“ wurde für mich nie zum Fluch, ganz im Gegenteil: Der Erfolg hat mir sehr viele Türen geöffnet. Ich habe nur gute Erinnerungen an dieses Projekt und freue mich immer, wenn ich „Picco“ mal wieder sehe.

Apropos Erwartungen: Ihre Produzenten haben zuvor mit „Dark“ den großen Coup gelandet. Wird das zu einer Messlatte?

Für mich war es ein Glück, dass mir die „Dark“-Produzenten die Möglichkeit gegeben haben, mit „Tribes of Europa“ solch eine große Geschichte zu erzählen. Auch von Netflix finde ich es wahnsinnig mutig, ein derart aufwändiges Projekt zu machen, zumal es keine Comic- oder Romanvorlage dafür gibt. Vergleiche mit „Dark“ fände ich allerdings falsch, weil auf der kreativen Seite ganz andere Leute tätig sind und die Ideen sehr verschieden sind. Dem Erfolg von „Dark“ hat die deutsche Filmbranche viel zu verdanken, das internationale Ansehen ist dadurch sehr gestiegen.

Wie viel kostet denn so ein „aufwändiges Projekt“ von Netflix?

Ich glaube, das Budget ist relativ geheim. Da möchte ich lieber keine Zahlen nennen, um Ärger zu vermeiden. (Lacht)

Es heißt, die Brexit-Abstimmung hätte Sie zu dieser Geschichte eines zerstrittenen Europas inspiriert – hübsche Anekdote oder tatsächlich die Wahrheit?

Zugegeben, es klingt sehr anekdotisch, aber tatsächlich hat es sich so zugetragen. Drei Tage nach dem Brexit-Referendum habe ich dem Produzenten Qurin Berg ein zweiseitiges Exposée geschickt, das sogar bereits den Titel „Tribes of Europa“ trug. Mit dem Ausstieg der Briten zu Jahresbeginn und der Ausstrahlung der Serie schließt sich gleichsam der Kreis.

Wie düster darf ein futuristisches Drama sein?

„Tribes of Europa“ präsentiert keine extrem düstere Zukunftsvision. Im Kern ist es überhaupt keine dystopische Serie. Es geht um einen Neuanfang nach dieser Katastrophe. Natürlich gibt es einen gewaltbereiten Stamm, gleichzeitig gibt es sehr freundliche Stämme. Es herrscht ein bisschen Wilder-Westen-Atmosphäre, in der durchaus Hoffnung und Humor vorkommen sowie Abenteuer, die Spaß machen.

Welche Rolle spielt das Zielpublikum bei der Mischung aus düsterem Spektakel und lustigem Abenteuer?

Für mich selbst spielt ein Zielpublikum keine Rolle, ich schreibe meine Geschichten aus dem Bauch heraus. Klar können Marketingstrategen sich anschließend freuen, dass es hier eine unfassbar starke und ambivalente Frauenfigur gibt, die keineswegs allein ist. Am Schluss treten sogar noch Femen auf. Meine Motivation kommt jedoch nicht vom Marketing, sondern von meiner Vorliebe für starke oder gebrochene Frauenfiguren – vielleicht habe ich ja so eine feminine Seite in mir. (Lacht)

Wie hinderlich sind Spezialeffekte für die Freiheit des Erzählens?

Die Effekte machen den Drehrhythmus und die ganze Produktion unglaublich langsam. Es dauert einfach viel Zeit, bis eine grüne Wand für die Computeraufnahmen richtig eingerichtet ist. Für ungeduldige Typen wie mich gerät das oft zu einer Geduldsprobe. Andererseits eröffnen sich durch virtuelle Effekte ganz neue Möglichkeiten des Erzählens, die man sonst einfach gar nicht hätte.

Gefängnis und „Tatort“

Auch in Cannes bekannt: Philip Koch. Foto: Tobias Hase

Auch in Cannes bekannt: Philip Koch. Foto: Tobias Hase

Philip Koch, geboren 1982, studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in seiner Heimatstadt München. Mit seinem rigorosen Gefängnisdrama „Picco“ gelang Philip Koch ein viel beachtetes Debüt, das auch auf dem Festival von Cannes für Furore sorgte. Mit der Komödie „Outside the Box“ gelang ihm anschließend eine vergnüglich böse Satire auf karriereversessene Manager. Zuletzt dreht er je zwei Münchner und Bremer „Tatort“-Folgen.