Reutlingen

Forschung am Puls der Zeit

Fahrzeug-Innenräume der Zukunft entwickelt der weltweit einmalige Studiengang Transportation Interior Design an der Hochschule Reutlingen. Damit können die derzeit insgesamt rund 70 Studierenden künftig den gesellschaftlichen Wandel der Mobilität mitgestalten.

28.10.2021

Von Matthias Reichert

Bild: Hochschule Reutlingen

Bild: Hochschule Reutlingen

Busse als mobile Skatertreffs, kleine autonome Fahrzeugkapseln, die ihre Passagiere separat einsammeln und sich auf Hauptstrecken zu größeren Verbünden zusammendocken, selbstfahrende Autos als mobile Büros, Kanzleien oder Arztpraxen: Der Studiengang Transportation Interior Design gestaltet an der Reutlinger Hochschule das Innenleben von Fahrzeugen der Zukunft. Doch der Fokus der Ausbildung geht weiter – auf den generellen Wandel der Mobilität. „Wir denken über zukünftige Szenarien in Städten und dem gesellschaftlichen Leben nach und überlegen, was dann für Themen und Probleme in der Mobilität auftauchen“, so Studiendekanin Prof. Andrea Lipp-Allrutz. Daraus entstünden innovative Mobilitätskonzepte, aus denen man innovative Fahrzeuge ableiten könne.

So thematisieren die Seminare und Vorlesungen auch das Arbeiten der Zukunft, das Zusammenleben in den Städten, den Kontrast zwischen Landflucht und Mega-Cities. Verdichtetes Wohnen werde in den Städten weniger Platz für Mobilität lassen, während auf dem Land die Bevölkerungsdichte sinken werde, sagt Lipp-Allrutz voraus. Entsprechend sei der ländliche Raum dann für Mobilitätsbetreiber nicht mehr so lukrativ – weil es dort weniger Fahrgäste gebe. Die Städte würden zu dicht, das Land zu dünn besiedelt: „Das ruft nach Konzepten.“

Zuletzt haben die Studierenden mit dem Hersteller MAN Stadtbusse der Zukunft entwickelt. Etwa als mobiler Co-Working-Space mit Infrastruktur für Start-Up-Unternehmen, wenn außerhalb der Hauptverkehrszeiten mehr Platz im Bus ist oder dieser an den End-Haltestellen Pause macht. Ein anderes Team entwarf ein Konzept für Busse als mobile Skatertreffs für junge Leute. Mit eingebauten Drohnen, welche die Jugendlichen bis zur heimischen Haustür begleiten.

Künftig würden öffentlicher und individueller Verkehr verschmelzen, sagt die Professorin voraus. Autonomes Fahren biete neue Nutzungsmöglichkeiten. Wenn die Fahrzeuge selbst fahren, könnten die Fahrgäste unterwegs arbeiten, Konferenzen abhalten oder Filme anschauen. So würde ein Fahrzeug zum „dritten Lebensraum“. Auch die Nutzergruppen erweitern sich demnach: auf Ältere, Kinder, Menschen mit Einschränkungen oder ohne Führerschein. „Das gibt ganz neue Möglichkeiten im Design.“ Klassische Fahrzeug-Kategorien wie Busse und Autos könnten dann verschmelzen.

Autonome Fahrzeuge wären darüber hinaus auch nutzbar, wenn sie keine Personen transportierten. Dann würden sie beispielsweise Güter befördern und könnten rund um die Uhr fahren, wenn sie entsprechend ausgerüstet seien. Die Studierenden hatten 2018 in einer Semesterarbeit flexible Design-Interieurs entwickelt. So dass die Fahrzeuge in Stoßzeiten so viele Menschen wie möglich befördern können, mit komfortablen Sitz- und mobilen Arbeitsplätzen – aber auch mit Umbaumöglichkeiten für den Transport von Paketen oder Pizzas.

Prof. Andrea Lipp-Allrutz, Studiendekanin Transportation Interior Design. Bild: Hochschule

Prof. Andrea Lipp-Allrutz, Studiendekanin Transportation Interior Design. Bild: Hochschule

Die aktuelle „Sharing Economy“ zeige besonders, dass es vor allem jungen Leuten nicht mehr so wichtig ist, dass eigene Fahrzeuge als Statussymbole vor dem Haus stehen. Vielmehr gehe es vorrangig um die Verfügbarkeit der Fortbewegungsmittel, wenn sie diese benötigten. Entsprechend könnte die Nachfrage nach Teil- oder Mietautos steigen, ebenso nach E-Scootern oder Leihfahrrädern. „Wir beobachten den Weg hin zur multimodalen Mobilität“, sagt Lipp-Allrutz – der Nutzung verschiedener Verkehrsmittel, um an ein Ziel zu gelangen. Deshalb gehen auch klassische Fahrzeughersteller immer mehr dazu über, nicht mehr nur einzelne Fahrzeuge zu verkaufen, sondern komplette mobile Lösungen anzubieten wie beispielsweise Daimler seit einigen Jahren mit verschiedenen Mobility-Apps.

Im Studiengang geht es deshalb nicht nur um Design, sondern auch um derartige Mobilitätskonzepte und die nötige Infrastruktur: Dazu zählen entsprechende Halte- und Ladestellen sowie Apps fürs Planen und Mieten der neuen Mobilität. Oder Lagermöglichkeiten für E-Scooter in Bussen. Auch die Interaktion zwischen Fahrzeug und Fahrgast werde sich ändern. Etwa über Spracheingabe oder Steuerung durch Gesten, mit in die Materialien eingebauten Sensoren. Über die Sitze würden die autonomen Fahrzeuge dann den Puls der Passagiere messen oder deren Stresslevel. Entsprechend könnten sie notfalls einen Arzt rufen. Das Fahrzeug werde so „zum betreuenden Partner“. Und autonome Krankenwagen könnten Aufgaben von Medizinern und Pflegepersonal übernehmen.

Der Studiengang führt seine Semesterprojekte jeweils in Kooperation mit Herstellerfirmen durch. Die Ergebnisse inspirieren deren künftige Projekte – in Details oder Ansätzen, weil das Thema so visionär und weitdenkend sei, so Lipp-Allrutz. „Wir statten unsere Studierenden mit Kompetenzen aus, dass sie gut in der Fahrzeugindustrie arbeiten können.“ Dazu zählen innovatives Denken, Fahrzeug- und Designkompetenz, Teamfähigkeit, Kenntnisse der Materialien, der Visualisierung sowie der digitalen Möglichkeiten. Dieses Wissen sei später auch für die Herstellung von Schienenfahrzeugen, Flugzeugen oder sogar Schiffen hilfreich. „Eine Riesenindustrie“ tue sich zudem bei hybriden Kleinfahrzeugen zwischen Fahrzeug und Auto auf, sagt die Professorin.

Der Reutlinger Studiengang nimmt jährlich 18 Bachelor- und etwa sechs Masterstudierende auf. Die Zahl der Bewerbungen für die Plätze ist mit 30 bis 40 relativ überschaubar. „Wir sind ein kleiner Studiengang an einer kleinen Hochschule“, begründet Lipp-Allrutz das. Die Absolventen seien in der Fahrzeugindustrie allerdings sehr erfolgreich. Sie arbeiten nach dem Studium vorrangig bei Fahrzeugherstellern und deren Zulieferern, aber auch an Forschungseinrichtungen, die sich mit Mobilität beschäftigen – oder sie gründen eigene Unternehmen. Die Studienprojekte in Kooperation mit Partnern aus der Fahrzeugindustrie sollen sie auf ihren späteren Arbeitsalltag vorbereiten, sagt die Professorin. Dabei gehe es vor allem darum, wie Mobilität den Alltag bereichern könne.

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Erstellt:
28.10.2021, 15:38 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 28.10.2021, 15:38 Uhr

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