Tübingen

Französische Filmtage : Ein Kreis hat sich geschlossen

Denis Dercourts neuer Spielfilm „L’Enseignante“ wurde mit einem in Tübingen gekauften Objektiv gedreht.

04.11.2019

Von Thomas Volkmann

Sitzt als Regisseur gut im sattel: Denis Dercourt. Bild: Thomas Volkmann

Sitzt als Regisseur gut im sattel: Denis Dercourt. Bild: Thomas Volkmann

Das Spiel mit Suspense und Figurenpsychologie eint die meisten Filme von Denis Dercourt, ebenso spielt sein Wirken als Musiker stets eine wichtige Rolle. Die Französischen Filmtage haben dem Wahlberliner dieses Jahr eine Retrospektive gewidmet. Gezeigt wird mit dem aktuellen „L’Enseignante“ (Die Lehrerin) auch ein Thriller, der mit einem gebrauchten Objektiv gedreht wurde, das Dercourt 2013 bei seinem letzten Filmtagebesuch in Tübingen in der Auslage eines Fotogeschäftes entdeckte.

Moralische Ambivalenzen, emotionale Abhängigkeiten, rätselhafte Spuren und Verhaltensweisen – sie sind charakteristisch für Filme wie „La tourneuse des pages“ (Das Mädchen, das die Seiten umblättert, 2006), „Zum Geburtstag“ (2013) ebenso wie den vor sechs Jahren bei den Filmtagen vorgestellten „Ma chair de ma chair“. „Die Lehrerin“ stuft Dercourt als einen experimentellen Film ein. „Hätte ich das Drehbuch einem Sender gegeben, es wäre abgelehnt worden“, ist sich der 55-Jährige sicher.

Chabrol war ihm ein Vorbild

Warum, das wird schnell klar. Die einem libanesischen Migranten privaten Sprachunterricht erteilende Lehrerin erweist sich nämlich als äußert sadistische Person, die ihren Schüler manipuliert und für einen Racheakt missbraucht. Dabei hatte der am Musikkonservatorium in Straßburg nach wie vor als Professor für Bratsche und Streicherquartette tätige Regisseur das Thema Migration anfangs gar nicht im Sinn, als er 2015 eine der Episoden als Kurzfilm drehte. „Erst meine Frau, die zu diesem Thema forscht, brachte mich darauf“, erzählt er.

Deutsch gelehrt wird, so wie es EU-weit im Sprachunterricht für Migranten üblich ist, nach der Methode der Aktionspädagogik, die Begriffe direkt angewendet – sei es durch Zeigen oder Tun. „Man muss die Sprache also nicht über das Studium von Goethe lernen, sondern über Dinge, die man beim Einkauf macht oder wie man Kontakt zu seinem Nachbarn pflegt“, sagt Denis Dercourt.

Sein Protagonist hingegen lernt über die Bedeutung von Schuld und dass die deutsche Sprache viele Facetten von Leiden kennt. „Was die Innerlichkeit angeht, ist die deutsche Sprache so reich und bunt“, weiß Dercourt. Nachvollziehbar also, dass in Deutschland 400 Pflichtstunden, in Frankreich lediglich 80 vorgeschrieben seien.

Experimentell beim Schreiben und Drehen war das Vorgehen nach der bereits von John Cage beim Komponieren angewandten I-Ging-Methode, beruhend auf dem Zufallsprinzip. „Für den Schreibprozess war das sehr schwierig, und ehrlich gesagt würde ich es so auch kein zweites Mal mehr machen. Die Schauspieler wussten nicht, was auf sie zukommt“, erläutert Dercourt, aber in Deutschland sind die Darsteller so gut ausgebildet und perfekt in ihrer Körpersprache, das ist für einen Regisseur das Paradies“, weiß Dercourt von Projekten mit Sylvester Groth und Christoph Maria Herbst. „Sie sind wie gute Pferde, die wollen auch sehen, ob der Reiter – also der Regisseur – auch gut im Sattel sitzt“, vergleicht er.

Mit Schauspielern wie ihnen sei es kein Problem, nach dem „One-Shot“-Prinzip zu drehen. „Ich sehe das allerdings nicht ideologisch, aber in dieser Hinsicht war mir Claude Chabrol immer ein Vorbild, denn er hat seine Schauspieler stets sehr gut dirigiert.“ Einfluss auf Dercourts filmisches Schaffen hatte auch die Nouvelle Vague. „Für meine ersten Filme hatte ich zusammen mit meinem als Produzent tätigen Bruder Tom eine Firma, die nach Godards Philosophie ‚Les films à un dollar‘ hieß.“

In Frankreich ist der mit dem in Tübingen erworbenen Objektiv entstandene „L’Enseignante“ bereits diesen Sommer gelaufen. Viele Franzosen empfanden ihn als einen Film über Deutschland. Das hatte nicht allein nur mit dem Spielort Berlin und wie dort ein Migrant die deutsche Sprache lernt, zu tun, sondern auch mit dem unterschiedlichen Umgang von Wahrheit. „Wenn Du als Franzose nicht lügst, bist Du nicht klug und nicht höflich. Einem Politiker in Deutschland kann lügen die Karriere kosten“, sagt Denis Dercourt bestimmt.

Wenn die an einem Kieztheater im Wedding spielende Darstellerin Julia Franzke indes den Satz „Kein Heilmittel ist so effizient wie die Musik“ sagt, dann fehlt dem Zitat ein kleines Detail. „Ursprünglich sollte es ‚die deutsche Musik‘ heißen, aber das sagen zu lassen, habe ich mich nicht getraut“, gesteht Denis Dercourt und merkt an: „Die Szene über Schuld kann aber trotzdem nur ein Deutscher verstehen.“

(„L’Enseignante“ läuft nochmal heute um 16 Uhr und morgen um 16.30 Uhr im Museum; „Zum Geburtstag“ Mittwoch um 14 Uhr im Museum und „En équilibre“ (mit engl. Untertiteln heute um 18 Uhr im Arsenal.)

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Erstellt:
04.11.2019, 19:30 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 04.11.2019, 19:30 Uhr

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