Nordstetten · Sport

Fühlen, was andere nicht sehen

Leonhard Pratscher arbeitet seit Jahrzehnten als Masseur in seiner eigenen Praxis in Nordstetten. Trotz oder gerade wegen seiner Sehbehinderung startete der 79-Jährige in einen neuen Lebensabschnitt.

29.02.2020

Von Lukas Homrich

Leonhard Pratscher beim Stammtisch des ASV Nordstetten imVereinsheim. Bild: Karl-Heinz Kuball

Leonhard Pratscher beim Stammtisch des ASV Nordstetten im Vereinsheim. Bild: Karl-Heinz Kuball

Nach einem Freistoßpfiff des Schiedsrichters entsteht eine kleine Rangelei. Mit dabei: Fritz Walter und Leonhard Pratscher. Das Eröffnungsspiel des Horber Stadions gegen die Prominentenmannschaft der Fußball-Legende war das Highlight der Fußballer-Karriere des Nordstetters. „Fritz Walter war mein Idol“, sagt Pratscher. Doch Walter, der für seine schwierige Art bekannt war, habe sich in diesem Spiel unsportlich verhalten und einen Spieler der Horber Mannschaft angespuckt. Seit diesem Tag sei Fritz Walter für Pratscher kein Vorbild mehr gewesen. Zumal: Pratscher schoss beide Tore zum Zwischenstand von 2:0 – in der Halbzeit bekam sein Team deshalb die Anweisung, nicht mehr so ernsthaft zu spielen. Fritz Walter war gekränkt. „Wir Stürmer haben in der zweiten Halbzeit keinen Pass mehr bekommen“, sagt Pratscher. Die Horber verloren am Ende mit 2:3.

Leonhard Pratscher hatte vor seinem Unfall eine lange Karriere im Horber Fußball. Sieben Jahre war er Spielertrainer der ersten Mannschaft des ASV Nordstetten und wurde in der Saison 1966/67 mit der Mannschaft Meister der B-Klasse. Es folgten weitere Stationen beim ASV Horb, der damals noch die Fußballmannschaft beherbergte, und dem TuS Betra. Kurzum: eine echte Horber Fußballgröße.

Der Schicksalstag kam 1976. Pratscher spielte mit dem TuS Betra im Pokal gegen Herbrechtingen. Nach einer ärgerlichen Niederlage trafen sich die Spieler des TuS in der Gaststätte Adler in Betra zum Abendessen. Pratschers Frau Utta brachte deren damals dreijährigen Sohn Frank ins Bett und stieß zu den anderen. Sie saßen bis in den späten Abend zusammen. Um halb zwölf machten sich Leonhard Pratscher und seine Frau auf den Heimweg.

„Normalerweise bin ich gefahren“, sagt Pratscher. Aber in dieser Nacht war es anders. Utta Pratscher hatte zufälligerweise den Autoschlüssel und stieg auf der Fahrerseite ein. „Sonst sind wir über das Buchsteigle gefahren“, erzählt der heute 79-Jährige. Mit dem Buchsteigle ist die Seewaldstraße in Betra gemeint – eine Abkürzung, um die Fahrt über die gefährliche Horber Straße zwischen Empfingen und Nordstetten zu vermeiden. Aber auch das war an diesem Tag anders. „Wir haben geschwätzt. Da habe ich gemerkt, dass sie nicht ins Steigle abbiegt.“ Sie hatte es einfach vergessen. So fuhren die beiden über Empfingen.

Auf der Horber Straße passierte es. Eine gefährliche Kuppe, die schlecht einzusehen war. Im anderen Auto, ein 19-Jähriger aus Salzstetten. Alle beteiligten überlebten, aber Pratscher erblindete. „Meine Frau ist nur 45 km/h gefahren, mehr nicht. Wenn ich gefahren wäre, hätte es ganz anders gekracht“, sagt er. Mit der Frage was gewesen wäre, wenn sie über das Buchsteigle gefahren wären, beschäftige Leonhard Pratscher sich im Nachhinein nicht. „Das bringt nichts.“

Zurück ins Leben gefunden

Nach dem Unfall wurde der Nordstetter in der Augenklinik in Tübingen behandelt. Er wusste, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. „Außer meiner Familie hat mir niemand geholfen, nur Herr Naumann“. Dr. Naumann war der im Jahr zuvor eingesetzte Ärztliche Direktor der Augenklinik. Er besorgte Pratscher einen Platz an der Blindenschule in Marburg und half Pratscher dabei, in ein normales Leben zurückzufinden.

Andere Blindenschulen waren nicht gut. Sie boten nur eine Ausbildung auf Grundschulniveau an. An der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg gab es das einzige Gymnasium für Sehbehinderte in Deutschland. Hier lernte Pratscher die Blindenschrift und suchte einen neuen Berufsweg. Viel Auswahl hatte er wegen seiner Behinderung nicht. . „Sorgfältig bin ich, aber gegen jemanden, der sehen kann, einfach zu langsam“, sagt er. „Ich wollte erst Krankengymnastik lernen, das hat man mir aber nicht zugetraut.“ In Marburg sagte man ihm, er könne Bürstenbinder, Korbflechter, Telefonist oder Masseur werden. Letzterer war der einzige Beruf, der für ihn in Frage kam. Dabei wird vor allem Gründlichkeit und anatomisches Verständnis benötigt.

Das lernte Pratscher durch Abtasten mit einem Knochenkarle (Skelett-Modell) in der Vorausbildung in Würzburg. „Bis auf die Schraube auf dem Kopf des Skelettmodels war alles original getreu. Da bekommt das Sprichwort ‚Eine Schraube locker haben‘, eine ganz neue Bedeutung“, sagt er und lacht. In Mainz absolvierte er eine Ausbildung. In der Schnupperkurswoche sagte der Schulleiter zu ihm, dass der Beruf nicht das Richtige für ihn sei. Pratscher zog die Ausbildung stoisch durch – und bestand mit Auszeichnung.

Zwischenzeitlich musste sein Sohn praktisch ohne Vater aufwachsen. Seine Ehe habe der Unfall eher gestärkt als belastet, sagt er. Utta unterstützte ihn bei allem, was er tat oder anstrebte. Nach der Ausbildung kam Pratscher zurück nach Horb, in die Praxis von Werner Straub und später zu Adolf Barth in Empfingen.

In seinem Berufsleben war Pratscher oft Diskriminierungen ausgesetzt. Seine Blindheit wurde von einigen Kollegen schamlos ausgenutzt, ohne dass Straub und Barth dies bemerkten. Eine Kollegin bat Pratscher darum, einen Patienten für sie zu behandeln, da sie keine Zeit habe. Kaum im Behandlungsraum erzählte ihm derselbe Patient, dass die Kollegin im Empfangsraum sitze und stricke.

Eine andere Kollegin habe ihre Patienten ausgesucht, ohne Pratscher darüber zu informieren. Sie habe zum Beispiel bei Adduktoren-Problemen nicht behandeln wollen wegen der Nähe zum Intimbereich. Pratscher bekam auch teilweise das dreifache an Behandlungsterminen wie die anderen Kollegen aufgebrummt.

Pratscher konfrontierte seine Kollegen mit den Vorwürfen, traf aber auf Unverständnis. Noch heute ärgert er sich über die Dreistigkeit, mit der einige Menschen seine Blindheit ausnutzten.

Am Ende machte er sich mit seiner eigenen Praxis selbstständig und gewann damit seine Selbstbestimmtheit zurück. Als Masseur hat er durch seine Behinderung ganz eigene Methoden und Fähigkeiten entwickelt. „Als Blinder hat man andere Orientierungspunkte“, sagt Pratscher. Ohne Ablenkungen könne man besser ergründen, wo das Problem liege. Pratscher fühlt das, was andere nicht sehen können.

Er betreut heute keinen speziellen Verein, hat aber zusammen mit seinem Sohn, der ihn unterstützt, wo er kann, bei Spielen und Trainingseinheiten den FC Horb betreut. Am meisten betreut Leonhard Pratscher Fußballspieler. Mit 79 Jahren ist er immer noch aktiv als Masseur tätig. „Es macht mir immer noch Spaß. Ich habe dadurch mit vielen unterschiedlichen Leuten zu tun“, schwärmt er.

Vor über zwei Jahren kam die Lebensgefährtin von Josef Haas, einem ehemaligen Mitspieler aus der Meistermannschaft Pratschers, als Patientin zu ihm. Sie sagte Pratscher, dass Haas mehr Bewegung brauche. Seitdem geht Pratscher mit seinem alten Teamkameraden Haas jeden Mittwoch spazieren. Bei einem dieser Spaziergänge kam ihm die Idee für den Stammtisch der alten Mannschaft des ASV Nordstetten wie es ihn auch schon in Horb gab. Die B-Klasse-Meister hatten sich seit Jahren nicht gesehen.

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Erstellt:
29.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 21sec
zuletzt aktualisiert: 29.02.2020, 01:00 Uhr

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